Donnerstag, 30. Januar 2020

1945 zu Ende des zweiten Weltkriegs

Vom Ende des zweiten Weltkriegs 1945 berichtet, ein damals 16jähriges Bauernmädchen aus Hinterstoder.
Nachstehend Auszüge aus ihren Aufzeichnungen.

1945 waren Gastarbeiter, Fremdarbeiter, Zwangsarbeiter, Polen, Ukrainer, jüngere Männer und auch Frauen aus den besetzten Gebieten zum Arbeitseinsatz an Stelle der eigenen, eingerückten Männer und Söhne bei Bauern untergebracht. Die tägliche Zusammenarbeit von Einheimischen mit Fremdarbeitern brachte auch feste Verbindungen bis zu Intimitäten zustande. Manche Bäuerinnen bekamen ein Kind und wenn der Ehemann nach Hause kam gab es große Probleme. Bedingt durch den Krieg hatte die Landwirtschaft eine Reihe von Beeinträchtigungen hinzunehmen. Beschlagnahme der Pferde, Ablieferungspflicht von Lebensmitteln, Kriegsdienst der Männer usw.
Hitler brachte uns zwar Arbeit und Geld. Die Not hatte ein Ende. Aber um welchen Preis???

Mein 18 jähriger Bruder war Bordfunker. Später wurde er am Boden eingesetzt bei den Partisanen. Seine Briefe aus dem Feld machten uns Angst. Manche Sätze schrieb er in unserer jugendlichen Geheimschrift, damit es unsere Mutter nicht lesen konnte. Dann galt er in Südfrankreich als vermisst. Das Leid einer Mutter, wenn der Sohn nicht mehr zurückkehrt ist so unbeschreiblich groß, dass man es nicht in Worte fassen kann.

Wie sehr der Kriegsdienst den Charakter und die Lebenseinstellung eines Einberufenen verändern konnte zeigte die Geschichte eines Freundes unserer Familie. Der Mann, ein Landwirt, wurde auch zum Kriegsdienst verpflichtet. 
Er kam in eine Munitionsfabrik in der Nähe des Konzentrationslagers Mauthausen. Er hat Filz- und Kleiderläuse mit nach  Hause gebracht. Der ursprünglich gutmütige und liebevolle Mann veränderte sich total. Wenn seine Frau ihm Vorhaltungen machte, wurde er wütend und warf die eiserne Bratpfanne nach ihr. Er verwandelte sich in einen richtigen Grobian und fing zu saufen an. Die Kinder mussten ihn vom Wirtshaus holen, wo er beim Kartenspiel das ganze Geld verlor. Seine Familie machte mit ihm die Hölle durch. Es kam oft zum Streit. Er konnte keine Kittelschürze in Ruhe lassen und betrog seine Frau mit allen möglichen Weibern. Später, bei einer Bruchoperation wurden ihm die Samenstränge durchgeschnitten. Dann war endlich Ruhe.

Manche Stodertaler Nationalsozialisten notierten die Namen von allen die zur Kirche gingen und meldeten es dem Blockwart. Nach Kriegsende mussten sie zur Strafe die Straßen und den Friedhof säubern.

Der Rückzug kam. Überall wurden Soldaten einquartiert. Alle Soldaten versuchten, so schnell wie möglich, ihre Uniform gegen Zivilkleider zu tauschen. Manche Generäle und hohe Militärs suchten Zuflucht im entlegenen Stodertal. Dann kamen amerikanische Panzer und Soldaten und übernahmen die Verwaltung in der Gemeinde. Ein amerikanischer Militärlastwagen, der Lebensmittel transportierte, stürzte die Hofbauernleiten hinunter. Wir rannten um die Schmalzdosen, Ölkonserven, Erdnussbutter, Reis, Kakao und Schokolade aufzusammeln.
  
Von überall her kamen Flüchtlinge. Ein Flüchtling, der B., wurde bei uns einquartiert. Zu Hause hatte er eine Frau und 6 Kinder. Über ihren Verbleib wusste er nichts. Er war lange im Stodertal und irgendwann verliebte er sich in ein einheimisches Mädchen, das seine Liebe aber nicht erwiderte. Als der Verlobte des Mädchens aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, stürzte er sich in Selbstmordabsicht aus Eifersucht, mit dem Moped in einen Bach. Er erlitt einen Schädelbruch und war auf der Stelle tot.



Freitag, 24. Januar 2020

Der zweite Weltkrieg geht zu Ende

Über das Ende des 2. Weltkriegs 1945 berichtet ein damals 16 jähriges Bauernmädchen aus Hinterstoder, das in Steyr die Schule besuchte.

In der Ferne tobte der Krieg. Auch Steyr wurde von Bomben nicht verschont, da sich hier die Hermann Göring Werke befanden. Viel Zeit verbrachten wir in stinkenden Luftschutzbunkern um unser Leben zu retten.
In Hinterstoder erreichte der Krieg unsere kindlichen Köpfe und Herzen nur sehr am Rande. Abenteuerlich war es nur, wenn die Alliierten Bomberverbände über unseren Luftraum flogen. Man hörte in der Ferne tief und bedrohlich Flugzeugmotoren brummen. Am Fensterbrett klirrten die Mostgläser. Vom Himmel fielen schmale Aluminiumstreifen zur Täuschung der Flugabwehr. Die Jagdflieger flitzten wie Schwalben durch den Himmel. Bomben wurden abgeworfen. Die Bombensplitter mit spitzen Zacken sammelten wir später ein.
In den Großstädten, so wurde erzählt, aß man wegen der Hungersnot auch  Hunde, Katzen und Pferdefleisch. 
In unserem Garten war kein Platz mehr für Gemüse. Unser Vater hat überall Tabak angepflanzt. Tabak konnte man gut verkaufen. Alle Kammern waren voll davon. Die Tabakblätter, die auf Schnüren aufgehängt waren, wurden immer wieder mit Wasser bespritzt und gewendet, bis die Blätter ganz dunkelbraun waren.

Damals hatte niemand ein eigenes Fahrzeug und alle Autobusse waren hoffnungslos überfüllt. Es gab immer mehr Fahrgäste als Plätze. Oft mussten Leute zurückbleiben und auf den nächsten Bus warten. Wenn auf den Bänken bereits 4 statt 2 Personen saßen und im Mittelgang schon alles zusammengepfercht war, riefen die Busfahrer: "Geht´s z´ruck, die anderen wollen auch noch rein." Half  dann nichts mehr, dann stieg der Fahrer aus und sah sich von außen an, ob noch irgendwo eine Handbreit frei war. Er schob die Leute mit den Händen hinein. Dann verriegelte er die Tür, dass niemand hinausfallen konnte. Erst dann ging es los. Halten brauchte sich keiner, denn umfallen konnte man nicht. Auf der Fahrt wurde die Menge zusammengerüttelt und wenn man Glück hatte, bekam man sogar soviel Platz, dass man auch den zweiten Fuß hinstellen konnte. War der Bus am Ziel, bewegten sich so große Menschenschlangen heraus, dass man es nicht glauben konnte, dass sie alle in einem einzigen Bus gewesen waren. Ich fuhr trotzdem lieber mit dem Bus als mit dem Zug.
Am Verschiebebahnhof Klaus musste man nach Steyr umsteigen und die Fahrt ging weiter mit der "Schnackerlbahn". Dieser Zug war so langsam, dass man im Sommer während der Fahrt aussteigen konnte um Blumen zu pflücken.

Pullover wurden in der Not mit allen möglichen "Mitteln" gestrickt. Verbandstoff und in Streifen geschnittene Windeln wurden als Wolle verwendet. Am Körper kratzte das ganz arg. Die Knoten von dem zusammengebundenen Garn juckte furchtbar auf der Haut. 

In der Schule wurden uns abschreckende Filme über Geschlechtskrankheiten gezeigt.
Plakate: "Feind hört mit" hingen an den Wänden.

Später, als die Amerikaner kamen, wurden wir vor und nach dem Aussteigen aus dem Zug mit dem Ungeziefervertilgungsmittel DDT unter den Armen und am Kopf eingesprüht.

Tabakblätter färben sich



Freitag, 17. Januar 2020

Filmkulisse Hinterstoder



Die Oberösterreichischen Nachrichten berichteten am Freitag, den 13. Juni 1947, also bald nach dem 2. Weltkrieg schon, von einem Filmprojekt, das in Hinterstoder entstehen sollte. Seither war Hinterstoder für viele Spielfilme Schauplatz und Kulisse.

„Soeben habe ich mit dem Spielleiter und Schauspieler der Welser Bauernbühne, Ernst Cech, der schon bei der Bavaria vor der Kamera stand und im Film Sepp Ernst heißt, den Kontrakt für unseren ersten Film unterzeichnet", so begrüßt mich Will Jmmerl, Chef der Alp-Film in Linz, Walterstraße 20. Auf meine Frage nach den Plänen der Alp-Film antwortet der Leiter: „Ich will den psychischen Film und den hundertprozentig oberösterreichischen Film drehen. Die herrliche Landschaft unserer Heimat soll nicht Szenerie, sondern Handlung sein. Ich beabsichtige, meine Filme zum größten Teil im Freien und nur etwa ein Drittel im Atelier aufzunehmen. Die Schwierigkeiten, die wir überwinden müssen, sind natürlich ungeheuer groß, sie liegen vor allem in der Materialbeschaffung. An fanatischem Willen mangelt es jedoch bei unserer Arbeitsgemeinschaft keinesfalls. Im übrigen bin ich einmal als Ultra-Hyper-Super-Optimist bezeichnet worden, und ich hoffe, dass sich mein Optimismus auf die Firma gut auswirken wird."
Das Drehbuch für den ersten oberösterreichischen Film stammt von der dramaturgischen Abteilung der Alp-Film nach einer Idee von Prof. Tschöpe. Die Dreharbeiten beginnen in der ersten Hälfte des Juli in Hinterstoder. Bis Ende August, glaubt der Produktionschef, wird der Film abgedreht sein, so dass sein Start in Linz für September bevorsteht. Der Film, in dessen Hauptrollen sich Sepp Ernst und weitere bewährte Mitglieder des Welser Bauerntheater-Ensembles teilen, hat ein tragikomisches Thema zum Inhalt.
Für die Alp-Film ist es ein Gebot, unsere Bauern mit ihrem Witz und nicht, wie in der Regel in bäuerlichen Lustspielen, als lächerliche Figuren zu zeigen. Gründer der Alp-Film ist Will Immerl, ein „alter Hase" vom Theater, der als Tänzer ein Begriff ist. Ihm kommt das Verdienst zu, Pionier des oberösterreichischen Films zu sein. Seine künstlerischen Leistungen bei ausländischen Filmfirmen bürgen dafür, dass die Erwartungen des oberösterreichischen Filmpublikums nicht enttäuscht werden. Mit der Inszenierung des ersten Alp-Films wird er sich erstmalig als Filmregisseur vorstellen. Geschäftsführer des Unternehmens ist Stellwag v. Carion. Das musikalische Element betreut Musikdirektor Prof. Tschöpe. Als Kameramann fungiert Hans Hoffermann. Die technische Leitung hat Ing. Walter Richter inne.
Selbstverständlich muss eine Filmgesellschaft über ein Studio verfügen. Will Immerl hegt den Wunsch, in Wegscheid, wo viele Baracken stehen, ein Filmatelier aufzubauen. Dass es ein schöner Anblick für ein künstlerisches Auge sein wird, ist für diesen Vollblutkünstler Herzenssache. Damit Linz die Chance hat, mit Wien und Tirol zum Zentrum des deutschsprachigen Films zu werden, ist die Unterstützung der Landesregierung und offizieller Stellen unbedingt erforderlich. Es ist zweifellos sehr zu begrüßen, dass sich ehrgeizige, junge Leute finden, die mit Begeisterung und Talent darangehen und ihre künstlerischen Ziele in die Tat umsetzen. Es ist zu wünschen und zu hoffen, dass die zuständigen Stellen Will Immerl eine Baubewilligung für ein Haus des österreichischen Films auf oberösterreichischem Grund und Boden erteilen, damit wir Linzer vielleicht eines Tages auf „unseren Rosenhügel" stolz sein können. 

                                                     Fotos: Georg Kainz, Traude Schachner


Freitag, 10. Januar 2020

Andere Geschichten aus "der guten alten Zeit".

In Aufzeichnungen und Erzählungen von ganz alten Leuten aus dem Stodertal wurde immer wieder von dem Leid der Dienstboten in manchen Bauernhäusern berichtet. Schutzlos mußten junge Mägde manchen Bauern und Knechten zu Willen sein. Wenn sich Nachwuchs einstellte wurden sie rücksichtslos im Stich gelassen.

Manche Mägde versuchten verzweifelt ihr Kind abtreiben zu lassen und gerieten dabei in ihrer Not und ohne Geld oft an zweifelhafte, manchmal selbsternannte Ärzte. Es wird von einem Arzt, einem Flüchtling berichtet, der Abtreibungen in einem Untermietzimmer durchgeführt haben soll.  Manches Kind überlebte schwer behindert eine versuchte Abtreibung.
Ein Mädchen namens "Zenzi" war stark behindert und hatte ein verkrümmtes Rückgrat. Der Grund war eine Zyste an den Lendenwirbeln, die eine Lähmung und Krümmung der Wirbelsäule hervorrief. Gleich nach der Geburt sah man, dass bei einem Auge des Kindes auch die Pupille fehlte. Zenzi war deshalb auf einem Auge blind.
Trotz ihres Buckels bekam sie später zwei  Kinder. Eine Tochter bekam sie von einem Mann der 40 Jahre älter war als sie und von der zweiten Tochter war der Vater ein so genannter "billiger Jakob". Das war ein fahrender Händler mit einem Bauchladen, der Haarmaschen, Sicherheitsnadeln, Druckknöpfe, Einziehgummi, Schuhbänder, Taschenveitl (Taschenmesser)  und mehr verkaufte.

Zenzi kämpfte sich trotz ihrer Behinderung, mit harter Arbeit bei Bauern, durch das Leben. Als sie alt war kam sie in das Armenhaus und starb dort mit 65 Jahren. Ein Armenhaus damals ist aber nicht mit einem Altenheim heute zu vergleichen. Es war ein Massenquartier mit kärglichster Nahrung und ermöglichte lediglich ein Dahinsiechen bis zum Tod.
So verliefen oft Schicksale armer Leute in der "guten, alten Zeit". 

     

Ein fahrender Händler, genannt "Billiger Jakob".

Ein fahrender Händler

Dienstag, 7. Januar 2020

Besuch der heiligen drei Könige in Hinterstoder


                                                                Fotos: Traude Schachner

Samstag, 4. Januar 2020

Die Linzer Pilgerfahrt des alten Holländers

Niemand beschrieb die Landschaften unserer Oberösterreichischen Heimat so sensibel und tief empfunden wie Adalbert Stifter.

Über eine seltsame Pilgerfahrt zu unserem großen Heimatdichter schrieb Wilibald Böhm, in der Oberdonau Zeitung am 1.1.1943.

Stifter stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah hinaus. Draußen trieb ein wütender Sturm den Schnee vor sich her. Noch vor einer Viertelstunde, als der Dichter von einem Morgenspaziergang durch die stillen Gassen der Stadt Linz zurückgekehrt war, lachte der Himmel und die Sonne spiegelte in der Flut des Donaustromes goldig und hell. "Der April tut, was er will", brummte er verdrießlich, wandte sich um und zündete sich, um seinen Unmut zu verscheuchen, eine lange Zigarre an. Dann schritt er zu seinen geliebten auf riesigen Gestellen stehenden Kakteen. Plötzlich aber erinnerte sich Stifter, dass ihm auf seinem Spaziergang ein Brief ausgehändigt wurde, den er in Gedanken versunken, in seinen Überrock gesteckt hatte. Er holte ihn nun, trat wieder ans Fenster und las:
"Mein Herr! Am 16. April d. J., nachmittags 3 Uhr, wird im Restaurant des Hotels "Zum Erzherzog Karl" in Linz ein Mann sitzen, der mit Ihnen ein Glas Wein trinken will. Er reist zu diesem Zweck dahin und bittet Sie, sich zu genannter Stunde im genannten Lokal einfinden zu wollen.
Amsterdam, den 3. April 1863. John Benotts."

Das Schreiben setzte Stifter in Erstaunen. John Benotts?! Der Dichter wiegte nachdenklich den Kopf. Er konnte sich nicht entsinnen, den Namen jemals gehört zu haben. Wie konnte übrigens der Amsterdamer wissen, ob er am 16. April in Linz sein würde?! Hatte er doch als Landesschulinspektor auch öfter auswärts zu tun! — Da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Konnte sich nicht ein Spaßvogel unter seinen Bekannten einen Aprilscherz mit ihm erlaubt haben?!
Trotzdem und ungeachtet des strömenden Regens, der sich an dem genannten Tage über der Stadt ergoß, begab sich der Dichter einige Minuten vor drei Uhr in das nebenan liegende Hotel "Zum Erzherzog Karl". Im Gastzimmer traf er nur zwei alte Herren aus der Nachbarschaft an, die hier ihre Pfeifen rauchten und spielten. Er nahm an einem runden Tischchen Platz, bestellte ein Glas Bier, trank aber nicht davon. Geduldig, wie er war, wartete er auf die Ankunft des Holländers. Da bemerkte er, dass in unmittelbarer Nähe des Ofens ein kleiner, alter Mann saß, dort seinen nassen Mantel trocknete und mitunter seine Augen nach der Eingangstür richtete, als wenn er jemand erwarten würde. Nach einiger Zeit winkte der Fremde den Kellner zu sich, sprach mit ihm ein paar leise Worte, worauf dieser mit der Hand nach dem runden Tischchen wies, wo Stifter saß.

Jetzt humpelte der kränklich aussehende, gebückte Mann zu dem Dichter, starrte ihn ein Weilchen an und fragte in einem fremdländisch klingenden Ton: "Sind Sie es, der Dichter Adalbert Stifter"? "Ich heiße Adalbert Stifter", gab jener schlicht zur Antwort. "Ich danke Ihnen", versetzte daraufhin der Mann. "Ich bin John Benotts aus Amsterdam". Nach diesen Worten rückte er einen Stuhl zurecht und setzte sich gegenüber dem Dichter an den Tisch. Wortlos sah er eine geraume Weile in dessen faltiges Gesicht, sich dabei einige Male über sein langes graues Haupthaar streichelnd. Dann fragte er: "Welchen Wein lieben Sie?" Der Dichter, der sich das sonderbare Verhalten des Holländers nicht gut erklären konnte, antwortete kurz: "Rheinwein". Der alte Mann rief den Kellner herbei und befahl: "Bringen Sie eine Flasche Rüdesheimer, und zwar einen vom Besten!" Nachher schenkte der Fremde die Römer (Gläser) voll und stieß schweigend mit dem Dichter an. Und als sie weiter tranken, wechselten sie nur wenige Worte, und der Alte betrachtete immer noch die Gesichtszüge des Dichters. Als die Flasche leer geworden, erhob sich der Holländer, trat vor den Dichter hin, neigte sich zu ihm und flüsterte: "Ich habe eine Bitte an Sie. Wird sie erhört werden?" "Sprecht die Bitte aus", sagte Stifter freundlich. "Wenn es mir möglich ist, will ich sie gern erfüllen". Der Amsterdamer blickte dem Dichter tief in die großen, graublauen Augen. Dann sprach er mit leiser Stimme: "Adalbert Stifter! Würdet Ihr gestatten, dass ich Euch auf die Stirne küsse?" Stifter stand auf und sagte: "Des Menschen Stirn ist von Gott geweiht. Küsset sie". Da strahlte das Gesicht des Holländers vor Freude, sanft legte er seinen rechten Arm über die Schulter des Dichters, drückte einen ehrfurchtsvollen Kuss auf dessen hohe Stirn und sprach: "Ich danke Ihnen für alles Glück das Sie mir geschenkt haben. Adalbert Stifter, leben Sie wohl"! Er sah dem Dichter noch ein­mal in die Augen, wandte sich dann um, ging in das Vorzimmer, wo er die Rechnung beglich, trat hernach auf die Straße, stieg dort in einen bereitstehenden Wagen und fuhr zum Bahnhof.

Zu Hause angekommen, erzählte Stifter seiner Gattin Amalie, welch seltsame Begegnung er heute gehabt hatte. Kopfschüttelnd hörte die Frau zu und meinte dann: "Der Mann muss wohl ein verschrobener Sonderling sein". "Deine Vermutung kann richtig sein", entgegnete der Dichter ernst, "aber du kannst dich auch irren". Nach einigen Wochen erhielt Stifter von diesem Mann ein zweites Schreiben. Es lautete: "Mein teurer Dichter! Der Mann vom 16. April wird Ihnen sonderbar erschienen sein. Derselbe hat Ihre "Studien" gelesen und ist von diesen Dichtungen so oft und so tief ergriffen worden, dass allmählich in ihm der unbezähmbare Wunsch entstand, einmal die begnadete Stirn des Dichters zu küssen. Darum reiste er nach dem fernen Österreich, auf geradem Wege hin und auf geradem Weg zurück, ohne Aufenthalt, ohne anderen Zweck als den, Ihnen seinen großen Dank zu bezeigen. So ist es geschehen und ich bin nun wieder in meinem Hause. Die Pilgerfahrt zu meinem Dichter der "Studien" zählt zu dem wenigen Schönen, was ich in diesem Leben getan habe. Adalbert Stifter! Segne Sie der Himmel für alle Wohltat, die Sie mit Ihren Dichtungen den Menschen erwiesen haben und erweisen werden.
Amsterdam, 4. Mai 1863. John Benotts.

Stifter las diesen Brief seiner Frau vor und fragte: "Amalie, was meinst du nun? Ist dieser Mann ein verschrobener Sonderling?" Die Frau schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie, "er ist ein Mensch, den das Herz regiert". Seitdem hatte der fremde Mann dem Dichter nicht mehr geschrieben. Er war aber aus Stifters Gedächtnis nicht entschwunden. Noch wenige Tage vor seinem Tode soll er sich geäußert haben, dass ihn sein Lebtag keine andere Huldigung so seltsam berührt und so tief bewegt hätte, wie die Pilgerfahrt des alten Holländers.



Adalbert Stifter (geb.1805 Oberplan, gest.1868 Linz)