Freitag, 31. Dezember 2021

Die Fahrt ins Neue Jahr.


In der Oberdonau-Zeitung erzählte am 30.12.1944 Otto Anthes die Geschichte "Die Fahrt ins Neue Jahr". Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.


In dem vergrasten Nebengeleise eines kleinen Bahnhofs stieg der Hahn des Bahnhofsvorstehers mit seiner Lieblingshenne umher und suchte das Gelände nach Freßbarem ab.

„Heute ist Silvester“, sagte er während er pickte. „Was du nicht sagst! Was du nicht sagst!“ gackelte die Henne. Solche Sprüche fügten sich ihrer Stimmlage am besten und entsprachen außerdem ihrem Geistesstand. „Ja“, unterbrach der Hahn mit Nachdruck das Gegackel, „und morgen fängt ein neues Jahr an. Mir ist, als ob wir heute auch etwas Besonderes finden müssten. Schließlich fängt für uns auch ein neues Jahr an.“ „Das ist auch wahr. Das ist auch wahr!“ stimmte die Henne bei.
Darüber kamen sie zu einem Güterwagen, der auf dem Nebengeleise vor einem Schuppen stand. Da eine dünne Spur von Körnern in das Innere wies, so stiegen beide in die Dämmerung hinein. Kaum aber hatten sie ein paar Körner aufgepickt, da kam ein Mann aus dem Schuppen und schlug die Wagentür zu. „Was hab’ ich gesagt! Was hab’ ich gesagt!“ fuhr die Henne auf. „Nun sitzen wir fest.“ „Gesagt hast du gar nichts“, stellte der Hahn mit nachsichtiger Würde fest. „Und ich würde dir auch raten, weiterhin den Schnabel zu halten. Wenn die Körnerspur nicht trügt, muss es für uns hier drinnen allerlei geben.“ Ach aber gar! Ach aber gar! gackerte die Henne gekränkt. Es standen nun allerdings mehrere Säcke im Wagen, die sich sehr hoffnungsvoll anfühlten. Aber soviel sie daran herumhackten, nicht das kleinste Loch vermochten sie hineinzubohren.
„Siehst du“, sagte der Hahn, ,so ist das Leben. Es ist alles da, was das Herz begehrt, aber du kannst nicht ran. Das heißt Weltwirtschaft.“ „Wie du das sagst! Wie du das sagst!“ schüttelte die Henne bewundernd den Kopf.
Im selben Augenblick gab es einen Stoß, ein kurzes Hin und Her und dann setzte sich der Wagen ruckartig und rumpelnd in Bewegung. Die beiden erschraken so sehr, dass sie sich, dicht aneinander gedrängt, stumm bei der Tür nieder hockten.
„Siehst du“, fasste sich der Hahn zuerst wieder, „so ist das Leben. Du steigst ein, ohne dir etwas Böses zu denken und ehe du dichs versiehst, geht die Fahrt los. Du weißt nicht warum, du weißt nicht wohin. Jedenfalls fahren wir mit der Eisenbahn ins neue Jahr." Eine Fahrt im Güterwagen hat etwas ungemein Beruhigendes. Auch unsere Reisenden kamen allmählich in die geruhsame Besinnlichkeit, wo man ins Erzählen gerät.
„Als mein Vater noch das Geschäft versah“, sagte der Hahn „lag einst jeden Morgen ein Huhn tot im Stall. Die Vorsteherin war außer sich und wusste sich das Unheil nicht zu erklären. Bis eine alte, böse Frau sagte: Das tut Ihr Hahn. Solche alten Burschen werden kollerig und statt die Hennen zärtlich ein bisschen zu rupfen, hacken sie ihnen in den Kopf hinein, dass sie sterben. Die Vorsteherin rief: „Ja, das hab’ ich auch schon gesehen — rannte in den Stall, fing den Alten ein, lief in die Küche, Kopf ab und mittags fraßen sie ihn mit Rachegefühlen auf. Am anderen Morgen lag wieder ein Huhn tot im Stall. Da war er’s gar nicht gewesen, sondern sie hatten den Stall mit giftiger Farbe gestrichen. So ist das Leben.“ Unter solchen Gesprächen verging die Zeit.
Mit einem Mal hielt der Zug polternd an und zugleich hörten sie Glockengeläut, ein paar Schüsse und vielfältige Rufe: "Prosit Neujahr!“ „Was ist denn das? Was ist denn das?“ fragte die Henne besorgt. „Neujahr ist!“ schrie der Hahn und schlug mit den Flügeln und krähte: Viel Glück in der Früh! Viel Glück in der Früh!“ Da wurde die Tür geöffnet und die beiden schauten auf einen erleuchteten Bahnsteig und in die vergnügten Gesichter mehrerer Eisenbahner, denn der Bahnvorsteher hatte schon um seine Ausreißer telefoniert. Sie wurden auf den Arm genommen, in eine warme Stube gebracht, bekamen Brot, zerschnittene Wursthaut und schliefen dann glückselig am Ofen ein.
Andern Tags wurden sie in eine Kiste mit Luftlöchern gesteckt und reisten nach Hause zurück. Nachmittags stiegen sie schon wieder in dem vergrasten Nebengeleise herum.“Siehst du“, sagte der Hahn, „so ist das Leben. Diese Nacht sind wir mit Glockengeläute und Butterbrot ins neue Jahr getreten. Heute ist alles wieder so wie vorher. Das ist gut so. Sich besinnen und erinnern, in der Dämmerung feiern wo es am Platz ist und dann wieder seine Pflicht tun, das ist das rechte Leben“.„Das ist auch wahr! Das ist auch wahr! gackerte die Henne und nickte um so emsiger.


Donnerstag, 23. Dezember 2021

Die Ballade vom Kind.

In der "Alpenländischen Rundschau" berichtete am 24.12.1942 Karl Hans Watzinger von einer alte Geschichte, die sich vor vielen Jahren im Steyrtal zugetragen hat.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.


                                    Gemälde: Dr. Helmut Schachner

In meiner Heimat hat sich in den Jahren, als noch die Eisenhämmer an der Enns und Steyr munter auf und nieder gingen und die Hammerherren reiche und mächtige Leute waren, eine Geschichte zugetragen, die ich einmal aus dem Munde eines Bauern gehört habe. Ich habe manches aus ihr vergessen und muss sie deshalb nacherzählen. Auch bin ich kein so trefflicher Erzähler, wie der Bauer einer gewesen ist; er konnte einen stundenlang mit solchen Geschichten unterhalten, man wurde nicht müde, ihm zu lauschen.

Da lebte in diesen Jahren im Steyrtal eine junge Witwe. Ihr Mann, ein reicher Hammerherr und bekannt im Kreise der Eisenhändler und im Lande, war nach dreijähriger glücklicher Ehe gestorben und die Frau trauerte um ihn, wie nur eine Frau um den Geliebten ihres Herzens trauern kann. So blieb sie in der Einsamkeit des großen Herrenhauses und widmete sich ganz den Geschäften. Sie war tüchtig und erwarb sich bald Hochachtung bei den Männern ihres Standes. Mancher versuchte da ihre Hand zu erringen. Doch sie schlug jeden Bewerber aus. Das kam ihr um so bitterer an, als es ihr von jeher das höchste Glück geschienen hatte, ein Kind unter dem Herzen zu tragen. Allein ihr Leib blieb ungesegnet. Und nun war auch die Hoffnung dahin, dass sich ihr heißer Wünsch erfüllen werde.
Oft lag sie in den Nächten wach und es dünkte sie, das Herz brenne über ihrem Leid alle Freuden, deren sie noch teilhaftig war, aus ihrem Leben; da lag sie leer, eine Hülle nur ohne Seele und wusste nicht, was noch beginnen auf dieser Welt. In solcher Trostlosigkeit verlief der Heilige Abend, der dritte schon seit dem Tode des Gatten.
Christine, so hieß die junge Witwe, hatte den Weihnachtswunsch des ältesten Hammermeisters angehört und dem Manne, der dem Hause seit langem treu diente, ihr Geschenk überreicht und nun beschenkte sie die Mägde. Dann ging sie in die Wohnstube und. blieb dort allein. Noch zur vorigen Weihnacht war sie mitten unter dem Gesinde an der Tafel zu ebener Erde gesessen. Diesmal wollte sie in der Hauspostille ihres verstorbenen Mannes lesen. Er war lutherischen Glaubens gewesen, sie jedoch war Katholikin. Viel Streit hatte es deshalb vor ihrer Heirat in den Familien gegeben und auch die Priester beider Kirchen hatten sich eingemischt. Doch die Liebe war größer und nichts konnte die zwei liebenden Menschen voneinander trennen. An diesem Heiligen Abend fand Christine keine Ruhe bei ihrer Erbauung, immerfort musste sie ans Fenster treten und auf den vom vollen Mond beschienenen, schneebedeckten Garten blicken. Das Würzgärtlein an der Mauer lag dicht verschneit, kaum dass man den Zaun sah, der es begrenzte. So kam die Mitternacht. Christine hatte den pelzverbrämten Mantel angelegt und das Gebetbuch an sich genommen, als auch schon Notburg, die junge Magd, die die Gemächer des Stockwerks aufräumte und die Witwe bediente, an die Tür klopfte und sagte, es sei Zeit zur Mette.
So trat die Frau des Hauses auf den Gang und stieg in den Flur hinab. Dort warteten schon die übrigen Mägde. Wie sie durch den langen Flur zur Tür gehen wollte, ertönte die Hausglocke. Wer mochte es sein? „Öffne!" sagte die Frau zu Notburg. Die Magd schloss die Tür auf. Alle sahen neugierig nach der Stelle. Die Nacht brachte es mit sich, dass ihnen, die Herrin ausgenommen, auch ein wenig ängstlich zumute war. Denn wer konnte zu dieser Stunde etwas im Herrenhaus wollen? Nach einer Weile stieß Notburg einen Schrei aus, den aber niemand im Flur deuten konnte, ob er des Erschreckens oder der Freude sei. Christine eilte herbei. Das Gesinde drängte nach. Da hob ihr Notburg wortlos ein Bündel entgegen. Die Frau trug es unter die Lampe und jetzt sahen es alle, es war ein neugeborenes Kind. Diese Entdeckung verschlug ihnen für eine Weile die Rede, sie starrten das Kind an, das wie ein Bild der Zufriedenheit, in seiner Fetzenhülle schlief. Schließlich fragte die Frau: „Hast du nicht gesehen, wer es gebracht hat? Es muss doch im Augenblick des Läutens gewesen sein.“ Aber die Magd verneinte. Christine ließ nun das Kind nicht mehr los und trug es in das Stockwerk. Wie von einem Bann bezaubert, folgten ihr die Mägde. Sie dachten gar nicht, dass es ihnen nicht zustand, in die Herrschaftsräume des Stockwerks einzutreten, denn sie waren dorthin nicht gerufen worden. Doch sie gingen mit der Frau in die Wohnstube, die manche Magd nur vom Hörensagen kannte. Auch die Frau verwies es ihnen nicht. Sie legte das Kind in die Arme Notburgs und verschwand für kurze Zeit aus der Stube. Mit einer Wiege kam sie wieder zurück. Die Mägde staunten nicht etwa, sie wussten, dass die Frau diese Wiege in das Haus mitgebracht hatte, als sie als Herrin eingezogen war. Darin hatten alle Frauen ihres Geschlechts ihre Kinder gewiegt und dann war die Wiege an Christine gekommen. Allein sie war leer geblieben. Jetzt legte sie das Findelkind in sie hinein, stellte die Öllampe auf ein nahes Tischchen und rückte einen Stuhl an die Wiege. Wie sie nun so bei dem schlafenden Kind saß und mit wonnigem Lächeln auf das Kleine herabsah, da vergaßen — so hat es mir der Bauer erzählt — die Mägde den Ort, an dem sie sich befanden; sie vermeinten, dass sie in der Kirche stünden und Maria mit dem Menschenkind vor ihnen säße. Und vielleicht hat Gott ein solches Gleichnis aufgestellt, nur deshalb, dass die Welt glauben lernte, wie viel Göttliches im Menschen verborgen sei.
Diese Geschichte hat sich denn auch durch nahezu zwei Jahrhunderte hin verbreitet. Der Bauer hat mir am Schluss gesagt, dass sie rundum am Heiligen Abend stets von der Hammerfrau Christine redeten, der in dieser Nacht des Wunders ein Kind geschenkt worden sei, ohne dass ein Mann sich ihr zur Zeit genähert hätte.
                                     

Freitag, 17. Dezember 2021

Der Reisepass in der Kehle

Die schwedische Opernsängerin Jenny Lind (geb.1820, gest.1887), die weltweit unglaublich viele Fans hatte, machte einmal auf ihrer Reise nach Wien einen Tag Zwischenaufenthalt in Salzburg. Dort wollten sie ihre Anhänger wenigstens einmal singen hören, obwohl sie kein Konzert gab.
in der Oberdonau-Zeitung vom 5.10.1944 berichtete  Friedrich Gersthofer mit welcher List es gelang die Sängerin dazu doch noch zu bewegen.
 
Als die berühmte Sängerin Jenny Lind auf ihrer letzten Reise nach Wien sich einen Tag in Salzburg aufhielt, um am anderen Morgen von dort die Reise fortzusetzen, hatte sich das Gerücht von ihrer Ankunft sehr schnell in der Stadt verbreitet. Einige Gesangsliebhaber wollten sich um jeden Preis den Genuss verschaffen, die berühmte Sängerin zu hören und beschlossen, da die Künstlerin in Salzburg nicht öffentlich auftrat, zu einer etwas merkwürdigen List.
Drei vornehm gekleidete Herren, mit ernsthaftem Aussehen, begaben sich in das Hotel der Diva, wo sie bis zu ihrem Zimmer vorzudringen vermochten. Der Älteste von ihnen, ein würdig aussehender Mann mit grauem Haar, entschuldigte ihr Erscheinen und bat um die Ausweispapiere. „Zu welchem Zweck?“ fragte die erstaunte Künstlerin. — „Gnädige Frau, wir bedauern aufrichtig, sie belästigen zu müssen", erwiderte der Wortführer, „aber wir haben die Anzeige, dass eine Schwindlerin ihre Ähnlichkeit mit ihnen benutzt, um sich für sie auszugeben und um dabei allerlei Betrügereien zu verüben.“ Frau Lind zeigte ihren Pass, den die Herren genau prüften und für gefälscht erklärten, so dass die Sängerin, die Unannehmlichkeiten mit der Polizei befürchtete, wirklich Angst bekam und hoch und teuer versicherte, sie sei die wirkliche und wahrhaftige Künstlerin Lind. Der alte Herr zuckte die Achseln. „Wohl möglich“, meinte er kühl, „ganz dieselbe Versicherung würde uns aber auch Ihre Doppelgängerin geben. Ich kenne nur ein Mittel, uns zu überzeugen: Singen sie etwas.“ Entrüstet wies die Sängerin diese Zumutung zurück.
„Dann bedauern wir, unsere Zweifel aufrecht erhalten zu müssen“, erklärte der Beamte, indem er Papier aus der Tasche langte und sich anschickte, ein Protokoll aufzunehmen. Die Künstlerin, die durch kontraktliche Verpflichtungen am nächsten Tag in Wien auftreten musste, fürchtete zurückgehalten zu werden und wusste sich daher nicht anders zu helfen, als dem Wunsche der drei Herren zu entsprechen. Sie sang am Klavier einige Lieder, während die Anwesenden atemlos lauschten, und nachdem sie geendet, in einen Beifallsjubel ausbrachen, der durch den aus dem Nebenzimmer dringenden rauschenden Applaus noch verstärkt wurde.
Die berühmte Sängerin erkannte nun, dass sie in eine Falle gegangen war und in der ersten Entrüstung drohte sie, die falschen Beamten zur Anzeige bringen zu wollen. Aber der Enthusiasmus war derartig groß, dass sie sich allmählich besänftigen ließ; die Schelme erflehten und erhielten ihre Verzeihung und entfernten sich, froh, auf diese Weise die berühmteste Sängerin ihrer Zeit gehört zu haben.

Jenny Lind





Freitag, 10. Dezember 2021

Das sonderbare Duell

In der Oberdonau-Zeitung am 23.9.1944 berichtete Fritz Zimmer von einem sonderbaren Duell zwischen dem Deutschen Reichskanzler Bismark (geb.1815, gest.1898) und Prof. Rudolf Virchow (geb. 1821, gest.1902) dem berühmten Arzt, Pathologen, Anthropologen, Prähistoriker und Politiker.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Noch als Bismarck schon der große deutsche Staatsmann war, standen sich er und der berühmte Professor Virchow in politischen Dingen recht feindlich gegenüber. Da sie beide sehr temperamentvolle Naturen waren, kam einmal die Auseinandersetzung zu solcher Schärfe, dass sich der Kanzler beleidigt fühlte und Virchow eine Herausforderung zum Duell überbringen ließ. Virchow war gerade in seinem Laboratorium mit Arbeiten zur Trichinenforschung beschäftigt, als Bismarcks Kartellträger (Sekundanten)
 erschienen. Er empfing sie sehr freundlich und hörte sie an. Dann sagte er: „Gut. Die Wahl der Waffen steht mir zu. Ich werde Ihnen gleich sagen, wie ich mich zu schlagen gedenke. Sehen Sie hier die beiden Mettwürste. Die eine von ihnen ist mit Trichinen gefüllt, die andere Trichinen frei. Herr von Bismarck wird mir die Ehre antun und eine von den beiden Würsten wählen und essen, worauf ich dann selbstverständlich ohne weiteres die andere verzehren werde. Wer die Trichinen bekommt — das ist das Gottesurteil."

Weil es Virchows Ernst war und der Kanzler keine Lust zeigte, darauf einzugehen und einflussreiche Mittelsleute die Beilegung des Konfliktes vermittelten, unterblieb das Wurstduell.

Otto von Bismark


Berliner Kongress, Gemälde von Anton von Werner;
 vorne mittig: Otto von Bismarck

Napoleon III. und Otto von Bismarck nach der Schlacht von Sedan

Rudolf Virchow



Virchow Denkmal in Berlin

Freitag, 3. Dezember 2021

Kindheitserlebnisse zu Ende des 2. Weltkrieges 1943 bis 1947 - Teil 13

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Der Sailer

Er hieß mit Vornamen Herbert und war der Freund von Tante Herta, der Schwester meines Vaters.
Als Zuckergroßhändler bediente er von Steyr aus die Kaufmannschaft des Enns- und Steyrtales mit dem in der Nachkriegszeit begehrten Produkt. Meine Mutter hielt viel von ihm, weil er ihr in der Phase der Umrechnung von Mark wieder auf Schilling anbot, ihre Ersparnisse in seine Firma aufzunehmen, wodurch sich ein Umrechnungskurs von 1:1 ergab und die Mutter nicht die Hälfte ihres Geldes verlor.
Das Zuckermonopol war auf Dauer nicht zu halten, da sich die Kaufmannschaft völlig neu organisierte. Sailer musste Konkurs anmelden und die Firma schließen. Zudem ging seine Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen waren u.a. wegen der Tante in Brüche. Äußerlich merkte man ihm nichts an, er war stets höflich und freundlich, gerade zu mir und meinem Bruder. Auf der Negativbilanz ist zu vermelden, dass er dem Trunke zugetan war. Seinen Stammtisch hatte er in der „Gösser“ in der Steyrer Enge Gasse. Später heirateten er und die Tante.

Auf dem Platz des SK Vorwärts

Gleich nach dem Krieg erfuhr das gegenüber unserer Wohnanlage in der Grillparzerstraße liegende Spielfeld des SK Vorwärts Steyr eine totale Umgestaltung. Der ohnehin geringe Rasenbewuchs war abgetragen worden, sodass der ganze Platz einer Schotterdeponie glich.
Eine Firma kam bei der Wiederherstellung nicht zum Einsatz, nur Männer, alle mit gleicher grauer Adjustierung ausgestattet, besorgten die Arbeiten. Es handelte sich um Häftlinge aus dem Gefangenenhaus Garsten, die jeden Morgen von wenigen Wächtern begleitet, im Marschschritt daher kamen. Auf der Rückseite ihrer Joppen trugen alle ein großes Z und ein großes G (Zuchthaus Garsten).
Am Rande des Platzes legten sie fein säuberlich auf Zwischenräume achtend ihre Habseligkeiten in kleinen Häufchen ab. Die Arbeiten fanden nur bei günstigen Witterungsbedingungen statt. Zu Mittag rasteten einige am Boden sitzend, andere spielten mit einem richtigen Fetzenlaberl Fußball. Als Tore dienten ihnen aufgetürmte Steine. Auch die Wächter saßen beisammen. Obwohl es eine Umzäunung des Platzes mit offenen Türen gab, lief keiner davon. Außenkontakte mit Zurufen und ein Gang zum Zaun, wo öfter Frauen standen, waren nicht erlaubt. Daran hielten sich alle. Nur wir Buben konnten uns innerhalb der Einfriedung frei bewegen.
Sogar der Rufname eines einzigen der Inhaftierten ist in mir hängen geblieben. Er betraf den Kleinsten aus der Truppe, der gleichzeitig der Lustigste von allen war und immer Späße machte. Seine Kameraden riefen ihm mit seinem Spitznamen „Bacherl“.
Bald hatten wir in Erfahrung gebracht, dass es sich bei den Männern um keine Verbrecher im üblichen Sinn handelte, sondern um sogenannte „Politische“, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft und Tätigkeiten bei der NSDAP gerichtlich verurteilt mehrmonatige Haftstrafen abzusitzen hatten. Von den am Zaun stehenden Frauen bekamen wir mitunter kleine Päckchen und dazu genaue Anweisungen, unter welche der abgelegten Habseligkeiten wir sie verstecken sollten. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Zigaretten oder Süßigkeiten. Wir warteten immer, bis kein Wärter in der Nähe war oder gerade keiner herschaute. Wenn alles klappte, bekamen wir dafür ein paar Zuckerl oder einen Kaugummi. Alles in allem betrachtet, ging es bei dieser Art des Strafvollzugs äußerst locker zu. Ich glaube mich erinnern zu können, dass nur ein Wächter ein Gewehr trug, dem wohl nur Symbolkraft zukam. Am Abend marschierte die Kolonne in geordneter Formation wieder nach Garsten zurück.

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Die Kindheitserinnerungen von Herrn Konsulent OSR Peter Grassnigg haben die Leser dieses Blogs mit großem Interesse verfolgt. So manche können sich erst jetzt vorstellen, wie es ihren Eltern und Großeltern in dieser Zeit ergangen ist. Wir danken Herrn Grassnigg sehr herzlich für die Einblicke in seine Kindheit. 

Freitag, 26. November 2021

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg erinnert sich an seine Kindheit 1943 bis 1947 - Teil 12


Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Weihnachten 1947

An das Fest dieses Jahres stellte ich keine Ansprüche Es schien auch so zu vergehen, wie die Abende vorher. Um halb acht Uhr ins Bett und aus …

Es kam dann doch etwas anders. Als es dunkel wurde, zauberte der Opa plötzlich einen kleinen Fichtenwipfel mit einer Höhe von etwa 40 cm hervor und sagte, dass ich ihn aufstellen und schön schmücken solle. Nach einer kurzen Diskussion mit der Oma kam das Bäumchen in einen Kochtopf aus Blech mit etwas Wasser am Boden. Die untersten Äste und der Rand des Topfes machten ihn stabil. So kam er auf der Abwasch zur Aufstellung.
Bei der Behängung mit Silberstreifen, sogenanntem Lametta, verfuhr ich äußerst großzügig, sodass die Oma meinte, man solle auch das Grün der Zweige noch gut sehen können. Kerzen für die Beleuchtung fand ich keine, nur ausgebrannte Halterungen aus vergangenen Jahren. Dennoch gab es etwas zum Aufhängen. Die Tante Herta stellte sich mit zehn Krachmandeln ein, die ich sorgsam in beiderseits ausgefranstes Papier wickelte. Das Aufhängen der Süßigkeiten bereitete mir Schwierigkeiten. Mit einer Schnur konnte ich leicht einen Knoten binden, mit dem dünnen weißen Zwirn brachte ich keinen zusammen.
Der Opa leistete zum Baum auch einen Beitrag. Er fertigte aus Karton einen fünfzackigen Stern an, bemalte ihn mit roter Farbe und heftete ihn an die Spitze des Baumes. Damals ist mir die Symbolik seines Tuns nicht bewusst geworden. Er wollte damit seinen Bruder Alois, der nach 12 Jahren im Exil aus der Sowjetunion aus Steyr zurückgekehrt war, ein wenig ärgern, weil dieser Weihnachten ablehnte und wie die Russen alle, nur dem „Väterchen Frost“ huldigte.
Ein Geschenk bekam ich auch. Es befand sich in einer kleinen Schachtel. Als ich sie öffnete, fiel eine Maus aus Metall in Lebensgröße mit einem Schlüssel zum Aufziehen heraus. Die Freude darüber verflog rasch, denn nach jedem Freilauf verkroch sich das Ding irgendwo unter einem Möbelstück und war nur unter Verwendung von Hilfsmitteln hervor zubringen.
Bei meinem nächsten Besuch in der Grillparzerstraße startete ich den Versuch, die Maus gegen die Puppe, die mein um drei Jahre jüngerer Bruder vom Christkind erhalten hatte, einzutauschen. Ohne Erfolg.
Aus purer Lust und Neugierde drang ich etwas später mit Opas Werkzeug in das Innenleben der Maus vor. Das tat ihr überhaupt nicht gut, denn plötzlich sprang sie in zwei Teile samt der Aufzugsfeder auseinander und segnete so für immer das Zeitliche.

Die Steyrtalbahn

Mit Ausnahme der beiden Schuljahre, die ich bei Oma und Opa in der Bahnhofstraße verbrachte, begleitete mich die Steyrtalbahn während meiner gesamten Pflichtschulzeit.
Sie bestand seit 1889 als Schmalspurbahn mit 760 mm Schienenbreite, fuhr ausschließlich im Dampfbetrieb und stellte die Verbindung der Ennstalbahn mit dem Ausgangspunkt Garsten mit der Kremstal-Phyrnbahn mit dem Endpunkt Klaus her. Seit 1985 wird die Strecke Steyr – Grünburg als Museumsbahn privat betrieben.
Die Schienen verliefen von Garsten kommend, über mehrere ungesicherte Kreuzungen zum Lokalbahnhof Steyr. Die leicht abfallende Trasse führte ca. 200 m nur durch einige Bäume, einen Bach und eine Wiese getrennt an unserem Wohnhaus vorbei.
Jeden Morgen erfüllte das mehrmalige Pfeifen der Lok beim Frühzug Richtung Grünburg die Funktion eines Weckers. Die Gegenzüge mussten ordentlich schnaufen, damit sie die Steigung bewältigen konnten. Besonders in der dunklen Jahreszeit sprühten dabei die Loks Funken und Dampf aus – ein herrliches Schauspiel.
Ältere Spielkameraden machten sich einen Spaß daraus, bei einem Güterzug gleich hinter dem Bahnhof auf einen der hinteren Waggons aufzuspringen und ein Stück bergauf Richtung Garsten mitzufahren. Es sollen auch ein paar Lausbuben im Herbst bei der Rübenkampagne die Schienen wenige Meter mit Schmierseife bestrichen haben, sodass sich die Räder der Lok durchdrehten. Der Zug rollte verkehrt in den Lokalbahnhof zurück. Erst als man einige Waggons abhängte, gelang der zweite Versuch. Die wahre Ursache dieser Betriebsstörung wurde nie bekannt.

Mit dem Opa hamstern

Dieser Begriff und die damit verbundene Tätigkeit sind heute völlig aus dem Gebrauch verschwunden. In den Nachkriegsjahren verstand man darunter den Tauschhandel von Wertsachen und Dienstleistungen gegen Lebensmittel bei den Bauern der näheren und weiteren Umgebung. Begehrte Objekte beim Hamstern waren: Eier, Butter, Rahm, Topfen, mitunter auch Milch, ein Stück Schweinernes oder Geselchtes. Auch Honig, Obst und Mehlspeisen zählten dazu. Das Hamstern lieferte Produkte des täglichen Bedarfes, die der öffentliche Markt nicht zu liefern imstande war.
Deshalb ging der Opa zu einigen Bauern hamstern, die er schon von seinen Wanderungen in das Ennstal in der Vorkriegszeit kannte. Manchmal war ich auch mit von der Partie, weil dabei für mich gelegentlich etwas abfiel. Zum Beispiel ein Butterbrot, ein Stück Kuchen oder im Herbst Zwetschken.
Einmal sagte eine Bäuerin zu mir: „Bua wüst a Kohramern “? (
Kohramern: In der Früh aßen die Bauern das Koch. Es ist mit einem Grieß- oder Reisauflauf oder mit einem Sterz in der Steiermark vergleichbar. An den Rändern der Pfanne oder Rein bildeten sich Krusten, die „Ramer“ hießen). Ich schaute fragend zum Opa hinüber:
„Sag bittschön und glei danke, des is wos guads“, antwortete er. Bei einem anderen Bauern, den wir beim Hamstern aufsuchten, saßen Holzknechte am Tisch, denen die Hausfrau eine große Rein mit Hausmannskost vorsetzte. Zu denen sagte sie: „Essts bis enk d´Fettn vo da Pappn owa rinnt.“ Der Opa erzählte von diesem Zuspruch zu Hause und mokierte sich über die rüde Ausdrucksweise der Bäuerin.
Vom Stodertal her waren mir Dialektausdrücke unter anderem, wie „me denn“ statt „warum“ bekannt. Trotzdem verstand ich die Leute südlich von Steyr nicht immer und musste mir den Sinn des Gesprochenen zusammen reimen. Es fiel mir auch auf, dass die Landkinder gegenüber ihren Eltern eine andere Anrede benutzten und statt dem „Du“ ein abgewandeltes „Sie“ verwendeten. Sie sagten zum Beispiel: „Vater habt`s es“ oder „Mutter kinnt`s es“ oder „Kinnt`s enk erinnern“.
Auf dem Nachhauseweg nach dem Hamstern musste ich ca. 100 Meter vor dem Opa gehen und nach Gendarmen Ausschau halten, die unsere Habseligkeiten beschlagnahmen konnten. Zum Glück kam das nie vor, auch nicht, wenn der Opa alleine unterwegs bei seinen stundenlangen Sammelzügen war.

Freitag, 19. November 2021

Erinnerungen an 1943 bis 1947 - Teil 11

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Die Wiederverwertung

In der Nachkriegszeit herrschte praktisch Mangel an allem. Daher wurde auch nichts weggeworfen und bei jedem Gegenstand die Benützungsdauer bis zur Unbrauchbarkeit hinausgeschoben. Das betraf Kleidung und Schuhe genauso wie Werkzeug und technische Geräte. Allen Dingen widmete man aus Sorge um die Wiederbeschaffung große Sorgfalt. Gebrauchtes hatte einen hohen Stellenwert und wurde immer wieder weitergegeben. Passgenauigkeit, Herkunft und Qualität der Waren spielten eine untergeordnete Rolle. Abnehmer fanden sich immer. Geflicktes und Gestopftes wurde als notwendig und nicht abwertend empfunden.
Wer, wie unsere Mutter, eine Nähmaschine besaß und es verstand, damit umzugehen, konnte sich glücklich schätzen und für den Eigenbedarf und gegen Entgelt für andere arbeiten. Die begehrtesten Stoffe stammten damals von den Offiziersuniformen der Deutschen Wehrmacht. Sie hatten eine hohe Qualität und boten zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten. Bevor sie allerdings einer zweiten Nutzung zugeführt werden konnten, musste man sie zunächst fein säuberlich auftrennen, dann waschen, allenfalls wenden und färben.
Nachdem ich mich bei einigen Reststücken als verwendbar erwies, durfte ich mit einer Rasierklinge bei der Zerteilung helfen. Diese Tätigkeit machte mir Freude, weil es dabei auf Genauigkeit und Ausdauer ankam. Stundenlang beschäftigte ich mich damit, Schneider wollte ich aber nie werden. Nur die Futterstoffe mochte ich nicht, weil sie sich komisch anfühlten und leicht durch die Finger rutschten.
In dieser Zeit standen noch die Kniebundhosen, Knickerbocker genannt, hoch im Kurs. Die Mutter nähte mir aus einem Mantelstoff für die kalte Jahreszeit eine, die ich mehrere Jahre verwendete, weil sie gleichsam mit mir mitwuchs.

Der 1. Mai

Nach vier Jahren Austrofaschismus zwischen 1934 und 1938 und der Nazi-Diktatur von 1938-1945 erlangte gerade in Steyr in den ersten Nachkriegsjahren der 1. Mai als Festtag der Arbeiterschaft wieder besondere Bedeutung.

Schon am frühen Morgen strömte aus verschiedenen Richtungen kommende Blasmusik in die Wohnung. „Das ist der Weckruf“, sagte der Opa, „damit die Leute aus den Stadtteilen bei den einzelnen Sammelplätzen zusammenkommen.“ Er holte seinen besseren Anzug aus dem Kasten und nach dem Frühstück gingen wir in die Bahnhofstraße hinunter, wo bereits reges Treiben herrschte. Die Leute standen in Gruppen um Fahnenträger beisammen, Funktionäre verteilten Flugblätter und ältere Frauen verkauften kleine rote Nelken aus Papier, die sie selbst angefertigt hatten. Besonders beeindruckten mich die von Jugendlichen geschmückten Fahrräder, die sich zwischen die Leute schlängelten. Sie hatten in die Speichen rote und weiße Bänder aus Krepppapier geflochten.
„Gehen wir auf den Stadtplatz“, meinte der Opa, „dort treffen dann die aus mehreren Seiten einmarschierenden Gruppen zur großen Kundgebung zusammen“.
Von dem, was über Lautsprecher auf mich eindrang, verstand ich gar nichts. Mit einem derartigen Rummel kam ich nicht zurecht. Nach dem allgemeinen im Chor gesungenen „Lied der Arbeit“ löste sich die Kundgebung rasch auf, nur einige Gruppen blieben stehen, weil sie hören wollten, was die Kommunisten, die im Anschluss an die Sozialdemokraten mit einem Aufmarsch demonstrierten, zu melden hätten.
„Opa“, sagte ich, „da ist ein Würstlstand, da riecht es gut“. „Das ist nichts für uns, Würstl isst man nicht auf der Straße, sondern daheim“, antwortete der Opa knapp. „Eventuell macht uns die Oma einmal welche“.
Der Aufmarsch der Kommunisten unterschied sich von den Teilnehmern her gesehen nicht wesentlich von jener der Sozialdemokraten, nur dass er zentral über die Bahnhofstraße, die Enns und die Enge Gasse auf den Stadtplatz führte. „Hören wir uns an, was der Onkel Lois als einer der Redner von der Tribüne vor dem Rathaus aus sagen wird“, meinte der Opa. „Er wird sicher die Vorzüge der Sowjetunion hervorheben“.
Es dauerte nicht lange, bis die am Stadtplatz verbliebenen Sozialdemokraten bei der Rede des Onkel Lois zu skandieren begannen. „Verräter“! „Warum bist wieda kemma, wanns eh dort in Russland so schen is“ ….
Mir war das alles fremd und ich begann mich zu fürchten, noch dazu, weil mir um den Onkel, den ich an sich mochte, Angst und Bang wurde. Ich drängte zum Heimweg, den ich zusammen mit dem Opa antrat. Unterwegs war ich ganz still, denn der Opa führte halblaut Selbstgespräche. Als ich einmal eine Frage stellte, blieb diese unbeantwortet, wie viele andere, von denen ich immer wieder hörte, „das ist nichts für dich“, „dazu bist du noch zu klein“, „das erfährst du alles einmal später, wenn du größer bist und die Zusammenhänge erkennen kannst“.

Alltägliches 1947

Es war wirklich kein schöner Herbst in diesem Jahr. Drei Monate waren erst seit dem Begräbnis meines Vaters vergangen. Der Oma ging es dementsprechend schlecht, sie weinte dauernd. Sie hatte den einzigen Sohn, der nur 36 Jahre alt wurde verloren, der den Krieg und die Gefangenschaft wohlbehalten überstanden und eigentlich leichtsinnig im Toten Gebirge starb.
Der Opa zeichnete in seiner Freizeit an seinem Traumhaus herum und machte dazu Entwürfe, wohlwissend, dass er seine Ideen nie in die Tat würde umsetzen können.
In Steyr beschäftigte man sich mit dem Wiederaufbau der zerbombten Häuser und verwertete aus den Ruinen alles Brauchbare. Die Ziegel wurden des anhaftenden Mörtels entledigt und zu Haufen gestapelt. Diese Arbeit besorgten hauptsächlich Frauen.
Auf meinem täglichen Schulweg über die Ennsbrücke studierte ich das zuhauf in den Fluss geworfene Kriegsmaterial. Mitunter blieben Erwachsene stehen und erklärten mir die einzelnen Teile. Oft war die Enns so schmutzig, dass man nicht bis zum Grund sehen konnte. Verursacht wurde das durch den Kraftwerksbau an ihrem Oberlauf.
Probleme hatte ich mit den Schuhen. Sie waren entweder zu klein oder zu groß und stammten alle von den Erwachsenen. Zum Glück hatte die Tante Herta, die Schwester meines Vaters kleine Füße. Ihre Schuhe konnte ich zeitweise tragen, wenn der Opa die Absätze kürzte. An Oberbekleidung fehlte mir nichts, da die Mutter mit ihrem Talent für die Schneiderei immer wieder Abhilfe schaffen konnte. Ansprüche und Begehrlichkeiten im heutigen Sinn lagen weit außerhalb meiner damaligen Vorstellungswelt. Bereits Getragenes oder Verwendetes wechselte oft mehrmals ohne Murren den Besitzer.

Freitag, 12. November 2021

Ein neuer Anfang -1943 bis 1947- Teil 10

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Die Schultasche

Sie hatte zwei hölzerne Seitenteile, auf die das sie umgebende Leder genagelt war. Der Verschluss bestand aus zwei Schließen. Hinten waren zwei Riemen zum Tragen angebracht. Das hölzerne Pennal mit einem Schubfach ergänzte die Grundausstattung. Ihr Inneres enthielt den Bleistift, einige stumpfe Farbstifte, in der zweiten Klasse den Griffel für die Schiefertafel und den Radiergummi.
Letzterem galt unsere besondere Aufmerksamkeit, denn er entwickelte sich zum Objekt der Begierde. Zahlreiche Raufereien unter den Mitschülern fanden wegen eines Radiergummis statt.
An der Schultasche hing außen an einem Verbindungsfaden zur Schiefertafel im Inneren ein Schwamm und ein Fetzerl zum Löschen des Geschriebenen oder Gezeichneten. Ein an einer Schnalle befestigtes Häferl aus Metall mit etwa zwei Deziliter Inhalt ergänzte die Ausrüstung. Wenn wir im Rudel liefen, erzeugten die Häferl einen besonderen Klang.
Im Winter benützten wir die Schultasche als Schlitten und fuhren damit den Schlossberg bis nach Zwischenbrücken hinunter. Dieser war dadurch so vereist, dass sich die Fußgänger nur am seitlichen Geländer haltend hinauf begeben konnten

Die Überwindung des Mangels

Es sprach sich herum, dass in der Artilleriekaserne am Steyrer Tabor Schleichhändler tätig wären, bei denen man Lebensmittel, Alkohol und Tabakwaren gegen Bargeld kaufen könne. Die Mutter interessierten nur die Erstgenannten. Aus diesem Grund machten wir uns auf den Weg, außerhalb der Lebensmittelmarken etwas zu ergattern.
Die Ware wurde nicht öffentlich angeboten, man musste sich zunächst bei den dort Hausenden durchfragen und das gewünschte Produkt nennen. Wir suchten nach Pflanzenöl, das wir für den Salat benötigten.
Die ganze Kaserne war randvoll mit Menschen, Flüchtlingen, ganzen Familien mit Kindern, Ausgebombten, entlassenen Fremdarbeitern, KZ-Überlebenden, Heimkehrern usw.
Trotz dieser Vielfalt herrschte Ordnung, wofür wahrscheinlich die dort tätigen Hilfsorganisationen sorgten. Decken, die an etwa zwei Meter über dem Boden angebrachten Seilen hingen, bildeten Kojen. Sie ermöglichten zwischen ihren Bewohnern ein gewisses Maß an Intimität. Das ganze Leben spielte sich am Fußboden ab. An Mobilar oder Betten habe ich keine Erinnerung. An den Mann, der uns das Öl verkaufte, schon. Er hatte die Ein-Liter-Flasche in der Innentasche seines weiten Mantels versteckt. Nachdem die Mutter mit ihm das Geschäftliche abgewickelt hatte, verließen wir, ohne auf plötzlich auftauchende Warenangebote anderer Händler einzugehen, den absurden Handelsplatz.

Die Wohnung meiner Großmutter lag im zweiten Stock eines Mehrparteienhauses in der Grillparzerstraße. In ihrer unmittelbareren Nähe konnte man kleine Parzellen mieten (a
n dieser Stelle befindet sich heute die Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land) und Gemüse anbauen, was einige Nachbarn auch taten. Die Mutter und die Großmutter hielten nichts vom Garteln, da sie der Meinung waren, dass sich das bei unserer Haushaltsgröße nicht lohnen und der Ertrag den Aufwand nicht rechtfertigen würde. Die Mutter arbeitete vor ihrer Ehe in der Buchhaltung der Steyrer Konsumzentrale, sie kannte sich dadurch bei der Kosten-Nutzen Rechnung aus.
Ich glaube, es war im Juli 1947, da bekamen wir eine Menge Ribisel geschenkt, die sofort den Weg ins Marmeladenglas fanden. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Zum Süßen und zur Haltbarmachung fehlte die erforderliche Zuckermenge. Eine Schnitte Brot mit Margarine als Unterlage und darauf Ribiselmarmelade schmeckte später erst dann köstlich, wenn die Mutter mir und meinem Bruder erlaubte, ein wenig Kristallzucker mit zwei Fingern über die Ribisel zu streuen.
Neben dem Kriegerdenkmal an der Steyrer Stadtpfarrkirche befand sich eine Brothütte, aus der besonders am Morgen der herrliche Duft nach frischem Gebäck strömte. Ein Weckerl kostete damals 16 Groschen. Wenn ich genug Geld beisammen hatte, konnte ich nicht widerstehen und kaufte mir eines auf dem Schulweg. Die Frau am Kiosk fragte jedes Mal: „Wüst a Weckerl mit an Soiz oder wüst a Weckerl ohne an Soiz?“


Rares gegen Bares

Zwischen den Bahnhöfen Garsten und Steyr befand sich eine Haltestelle der Steyrtalbahn mit dem Namen Sarning. Sie bestand nur aus einer Hütte, in die man sich bei Unwettern flüchten konnte. Der Opa nannte diesen Ortsteil „Halbgarsten“, weil sich dort die ehemalige Brotfabrik Reder befand, wo er in seinen ersten Ehejahren eine Stelle als Buchhalter inne hatte und mit seiner Familie dort lebte, ehe er in die Bahnhofstraße übersiedelte. Jahrzehnte war an der Außenmauer des zur Fabrik gehörenden Wohngebäudes ein mit blauer Farbkreide gezeichneter Männerkopf zu sehen, den angeblich mein Vater als Jüngling gezeichnet hatte. Das nur so nebenbei, denn der folgende Bericht beschäftigt sich mit einem wesentlich anderen Thema.
Hinter der oben erwähnten Haltestelle hatte ein Alteisenhändler seinen Betrieb aufgeschlagen. Vorne, zur Leopold-Werndl-Straße hin, befanden sich der Eingang und die Geschäftsbaracke. Um das gesamte Gelände führte ein hoher Zaun, damit nichts geklaut werden konnte.
Ich brauche nicht extra erwähnen, dass nach dem Weltkrieg Buntmetalle sehr hoch im Kurs standen und dass man damit Gewinn machen konnte, wenn man sie zum Alteisenhändler brachte.
Einige Buben aus meinem direkten Umfeld, die fast doppelt so alt waren wie ich, ersannen einen Plan, wie sie den Mann in der Baracke hinters Licht führen könnten. Sie verkauften ihm zum Schein gegen einen geringen Betrag irgendwo zusammen geklaubtes Alteisen. Bei dieser Gelegenheit spionierten sie die Lagerung von Messing und Kupfer aus. In der Dämmerung krochen sie auf dem Bauch von der Hinterseite aus durch den Zaun in das unter freiem Himmel befindliche Lager. Helfer mussten das Drahtgeflecht an der Unterseite in die Höhe halten. Rechts und links vom Tatort standen einige Schmiere. Das Diebsgut wurde, damit es nicht auffiel, bei einem anderen Händler gegen Bares getauscht. Einige besaßen sogar die Frechheit, dem Händler seine eigene Ware ein zweites Mal anzudrehen.
Von solchen Aktionen erfuhr ich durch meine Mitschüler bis ins Detail alles.


Freitag, 5. November 2021

Aus den Jahren 1943 bis 1947. Teil 9

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Mein erster Wickel mit der Religion

Das Haus Steyr, Bahnhofstraße 14, in dem meine Großeltern wohnten, gehörte einem Fleischhauer, der mit seiner Frau als Pensionist ebendort wohnte und Fischlmayr hieß.
Mein Großvater sagte beim Grüßen, als überzeugter Sozialdemokrat, niemals „Grüß Gott“, sondern immer „Guten Tag“. Trotzdem trichterte er mir ein, den Herrn Fischlmayr mit „Grüß Gott Hausherr“ und sie, die Frau Fischlmayr, mit „Grüß Gott Hausfrau“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auch mehrmals am Tag, zu grüßen. Ich tat das auch, wie mir geheißen und aufgetragen, bis das Verhängnis seinen Lauf nahm.
Im Rahmen der Vorbereitungen für die Erstkommunion in der zweiten Klasse lernten wir auch die zehn Gebote auswendig. Für die meisten brachte ich das nötige kindgemäße Verständnis auf, nur bei dem, in dem es hieß „Du sollst nicht begehren Deines nächsten Hausfrau“ schwindelte sich der Katechet in der Schule über die Runden, indem er sagte, dass wir dieses Gebot erst verstehen würden, wenn wir etwas größer werden.
Mir als Wiffzack war diese Begründung zu wenig, deshalb fragte ich daheim bei meinem Großvater nach, warum ich die Frau Fischlmayr, unsere Hausfrau, nicht begehren dürfe. Zum besseren Verständnis muss ich hinzufügen, dass die Frau Fischlmayr zu jener Zeit bereits über achtzig Jahre alt war und bekleidet mit Kopftuch und einem langen Kittel gelegentlich zusammen mit ihrem Mann auf einer Bank bei Sonnenschein im Hinterhof saß. Meine Frage, „Opa, warum darf ich die Frau Fischlmayr nicht begehren“, versetzte ihn zunächst in Erstaunen. Er stellte die Gegenfrage, warum ich das wissen wolle: „Weil es in den zehn Geboten steht“, antwortete ich. „So, so“, sagte der Großvater. -

Nach einer kurzen Nachdenkphase zog er sich mit der gleichen Argumentation wie der Religionslehrer aus der Affäre, indem er meinte: „Dafür bist du noch zu klein. Es betrifft Dich nicht, das ist etwas für die Erwachsenen“. „Tu aber, wie ich es Dir aufgetragen habe, die Hausfrau weiter schön grüßen“.

Wen wundert es, dass ich das Geheimnis der nicht zu begehrenden Hausfrau auch noch lange nach deren Tod in mir herumtrug und es noch Jahre dauerte, bis ich seinen Sinn verstand.
Wen wundert es weiter, wenn ein im Kindesalter gesäter Zweifel an der Religion eine nachhaltige Wirkung erzeugt?
Übrigens: Die katholische Kirche hat irgendwann das „Haus“ vor der „Frau“ im Text gestrichen.
Ich maße mir nicht an, der Auslöser dieser Veränderung gewesen zu sein!

Die Ausspeisung

Zu bestimmten Zeiten fuhren die Amerikaner mit ihrer Feldküche, die wir wie die Erwachsenen Gulaschkanone nannten, vor das Schulhaus und begannen mit der Verteilung einer Suppe. Diese roch fantastisch und hatte immer einen guten Geschmack. Wir tranken sie, jeder aus seinem Blechnapf erst in der Klasse, denn die Frau Bartel legte Wert auf Ordnung und Disziplin. Fand einer ein Stückchen Fleisch im Suppenbrei, tat er dies lautstark kund, wurde aber zurecht gewiesen.
Einmal verschlug es uns die Sprache, denn der Soldat, der die Suppe mit einer Schürze und einer weißen hohen Kochhaube bekleidet austeilte, hatte eine schwarze Hautfarbe. Die vorne Stehenden trauten sich anfangs nicht in seine Nähe. Er war groß gewachsen und hatte Zähne wie Schnee im Sonnenlicht. Er zeigte sie fortwährend und sagte zu jedem Knirps: „Komm her!“
Am nächsten Tag verrichtete ein anderer Amerikaner den Dienst. Wir waren zwar enttäuscht, freuten uns aber jedes Mal, wenn der freundliche Schwarze wieder bei der Verteilung da war und uns mit seinem breiten Grinsen anlächelte.
Bisher kannten wir Dunkelhäutige nur von Erzählungen und der Geschichte von den „Zehn kleinen Negerlein“. Das Auftreten einer Person mit schwarzer Hautfarbe war damals in Steyr eine echte Sensation.

Die Care Aktion

Zu Weihnachten 1947 erhielt jede Klasse ein Paket, in dem verschiedene Geschenke enthalten waren. Sie stammten von der Care Hilfsaktion der Amerikaner.
Die Frau Bartel klebte auf jeden Gegenstand des Inhalts mit Mehlpapp einen kleinen Zettel und schrieb eine Nummer darauf. Bei der Verlosung erhielt ich eine quadratische olivgrüne Dose aus Metall von etwa 20 cm Seitenlänge und drei cm Höhe, die, wie sich daheim herausstellte, süße Trockenfrüchte enthielt. Dazu kam ein kleines Päckchen in der Größe einer Zündholzschachtel. Neugierig öffnet ich dieses schon in der Schule und bemerkte, dass es ein weißes Pulver enthielt, das, wenn man den feuchten Finger hinein steckte, nach Pfefferminz schmeckte. Die Frau Bartel erklärte mir, dass es sich bei dem Geschenk um ein Zahnputzpulver handle. Verwendet habe ich es nie, denn Zähne putzen war damals nicht gang und gäbe.



Freitag, 29. Oktober 2021

Ende des 2.Weltkriegs 1943 bis 1947. Teil 8


Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen. 


Die Bohnentorte

Im selben Stockwerk, in dem meine Großeltern in der Bahnhofstraße wohnten, lebte auch das Ehepaar Stangl. Die Oma und die Frau Stangl tauschten laufend gegenseitig Lebensmittel aus. Die eine gab der anderen einen Teil ihres irgendwie Erworbenen ab und umgekehrt. Auch fertige Mahlzeiten wechselten so zwischen Tür und Angel die Konsumation.
Eines Tages, an einem Sonntag, brachte uns die Frau Stangl drei Stück einer Torte herüber, die sehr schön aussah, brauner Schokoladenüberzug, weiße Stücke in der Fülle. Nach dem Mittagessen sollten sie verspeist werden. Es stellte sich aber heraus, dass der vermeintliche Schokoladenüberzug eine eingedickte Kaffeesauße und die Stücke weiße Bohnen waren. Damit hatte es sich für mich und man kann dazu nur bemerken: „Gut gemeint, aber schlecht getroffen“.

Man erkennt aus dieser kurzen Episode den Einfallsreichtum einer damaligen Köchin, die alles, was sie in gutem Glauben besaß, einer Verwertung zuführen wollte.

Das Kabinett

Es lag im hinteren Bereich der Wohnung meiner Großeltern, war mein Schlafzimmer und hatte ein Fenster zur Bahnhofstraße. Dem gegenüber befanden sich Doppeltüren, durch die man ins Vorhaus hätte gelangen können. Zwischen diesen Doppeltüren hatte aber der Opa Regale eingebaut, auf denen die Oma ihre Schätze hortete. Volle und leere Marmeladegläser, eingemachtes Obst in Rexgläsern, in Kalk eingelegte Eier sowie nicht dauernd verwendetes Geschirr.
Das Bett benützte schon mein Vater als er noch ledig war. In dem großen, geräumigen Bett schlief ich herrlich. Warum ich darüber schreibe, hat auch folgende Gründe: Auf der anderen Seite der Bahnhofstraße, schräg gegenüber war das Cafe Petzwinkler. Dort gingen die Amerikaner ein und aus. Durch die Fenster konnte man nicht ins Innere des Lokals sehen, die Scheiben hatten einen bunten Anstrich mit allerlei Figuren. Auf der Eingangstür stand etwas, das ich zwar lesen konnte, aber nicht verstand -
OFF LIMITS. Gelegentlich verlegten die Soldaten tagsüber ihre Unterhaltung auf die Straße. Dann stand unten nächst der Färbergasse einer mit einem Holzprügel. Mit diesem beförderte er einen weißen Ball die Bahnhofstraße hinauf. Oben wartete einer mit einem riesigen Handschuh, der den Ball fangen sollte. Ich konnte diesem Spiel nichts abgewinnen, weil ich seinen Sinn nicht verstand. Selbst, als ich einmal einen derartigen Ball kurzzeitig mein Eigentum nennen konnte, hatte ich keine Freude damit, weil er hart und nur zum Werfen geeignet war.
An den Wochenenden ging es beim Petzwinkler hoch her. Da spielten Bands in voller Lautstärke bei offenen Fenstern und Türen, manchmal sogar auf der Straße, wo auch getanzt wurde. Meinen Großeltern gefiel dieser Rummel gar nicht und der Opa sagte: „Diese Ami-Musik hat uns gerade noch gefehlt.“ Für mich war das alles Unterhaltung und Spaß. Stundenlang konnte ich wegen des Lärms nicht schlafen, stand am Fenster des Kabinetts im zweiten Stock und schaute auf die Straße hinunter, bis mich die Müdigkeit überkam. Am Sonntag konnte ich schlafen, solange ich wollte, denn in die Kirche gingen wir ohnehin nicht.

Die zweite Klasse

Da hatten wir die Frau Bartel, eine ältere Dame, die aus der Pension wieder in den Schuldienst zurückgeholt worden war. Es gab damals zu wenig männliche Lehrer, da viele im Krieg gefallen waren oder als ehemalige Nazis noch nicht unterrichten durften. Die Frau Bartel trug mehrere bodenlange Kittel übereinander, aus denen schwarze Schnürschuhe hervorschauten. Ihre Oberbekleidung bestand immer aus einer ärmellangen weißen Bluse, die schon ergrauten Haare hatte sie aufgesteckt. Aus dieser Klasse habe ich einige besondere Erinnerungen:
Es gab nur wenig Papier, deshalb schrieben wir auf der Schiefertafel die Buchstaben im Takt nach Ansage. Während eines solchen Vorganges ging die Frau Bartel inspizierend durch die Knabenreihen. Wenn sie bei mir einen Fehler bemerkte, steckte sie den Finger in den Mund und verwischte mit ihrer Spucke die Schrift. Den dabei entstandenen Geruch habe ich heute noch in der Nase. Mir grauste fürchterlich.
Auf dem hohen Kasten, dem ein Fuß fehlte und deshalb wackelte, stand eine große braune Flasche. In ihr befand sich flüssiger Lebertran. In der Zehn-Uhr-Pause mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und die Frau Bartel verpasste jedem von uns einen vollen Esslöffel davon. Widerspruch war zwecklos. Oft träumte ich davon die Flasche möge einmal von seinem wackeligen Untersatz herunterfallen und zerschellen. Der Traum blieb unerfüllt.
Ab der dritten Klasse wurde uns der Lebertran in Form von Kugerln verabreicht, weil wir alle als unterernährt galten.
Im Winter froren wir in der Klasse gelegentlich, weil es kein Heizmaterial zum Nachlegen für den Ofen gab. In einem Aufruf bat die Schulleitung die Eltern, man möge den Kindern einmal in der Woche ein Stück Holz mitgeben.
Wer eine bestimmte Menge Papier mitbrachte, bekam dafür ein Heft. Dessen Qualität war aber so schlecht, dass man nicht mit Tinte darauf schreiben konnte. Erst in der dritten Klasse fingen wir damit an, mit der Feder zu schreiben.
Ein bedeutendes Ereignis dieser Schulstufe war die Erstkommunion. Unser Religionslehrer, ein Franziskanerpater aus dem Konvikt Vogelsang, übte die Zeremonie mit uns. Wir sagten Herr Katechet zu ihm. Nicht alle, auch ich, hatten eine Kommunionkerze. Beim Empfang des Sakramentes in der Kirche borgte mir der neben mir stehende Klassenkamerad seine für den Augenblick.
Ich genoss allerdings den Vorteil, dass meine Mutter eine gute Schneiderin war und mir aus Anlass der Erstkommunion eine neue kurze Hose, ein weißes Hemd und ein Gilet nähte.
Wir Buben trugen damals bei Schönwetter und besseren Gelegenheiten Stutzen. Bei Schlechtwetter lange Wollstrümpfe zur kurzen Hose. Damit diese nicht nach unten rutschen konnten, versteckten wir unter dem Obergewand einen Strumpfgürtel aus Gummi um den Bauch. Von dem hing für jedes Bein vorne und hinten ein breites, mit Schlitzen versehenes Band hinunter. Mit einem Knopf bzw. mit einem kleinen Geldstück stellten wir zwischen dem Schlitz und dem Strumpf eine Verbindung her, die hielt.

Freitag, 22. Oktober 2021

Aus den Jahren 1943 bis 1947, Erinnerungen von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 7

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.


Der Waschtag

Einmal im Monat, zumeist an einem Montag, war Waschtag. Dieser begann schon am Vorabend mit dem Einweichen der Wäsche in einer Lauge im Grander der Waschküche. Das Heizmaterial für den Ofen, dessen Kupferkessel von unten beheizt wurde, musste ich aus dem Kellerabteil herbeischaffen. Am nächsten Tag, bald in der Früh, ging es richtig los.
Sobald das Wasser im Kessel die richtige Temperatur erreicht hatte, wurde die inzwischen in einem Holztrog umgebettete Wäsche gesechtert. Dieser Ausdruck stammte von einem runden Holzeimer mit Stil dem Sechter, mit dem die heiße Lauge aus dem Kessel geschöpft und über das Eingeweichte gegossen wurde. Das besorgte allerdings die Mutter, denn für mich wäre das zu gefährlich gewesen. Als Reinigungsmittel kamen damals nur Soda und Kernseife zum Einsatz.
Den weiteren Waschvorgang kann ich nicht beschreiben, denn ich musste zur Schule.

Wenn ich zu Mittag heim kam, quollen noch immer Dampfwolken aus dem Waschküchenfenster und die Mutter war dahinter nur schemenhaft zu sehen. Beim Schwemmen und beim Aufhängen half ich wieder mit. Im Sommer machte das Spaß, in der kalten Jahreszeit weniger. Oft hatte ich von der Kälte ganz rote Finger.
Die Strahlungswärme des Kachelofens im Wohnzimmer beschleunigte den Trocknungsvorgang. Auf einer mehrmals um ihn gewickelten Leine konnte man kleinere Wäschestücke mit Kluppen befestigen und dadurch wieder rascher verwenden. Der Waschtag ist mir als Fixpunkt meiner frühen Kinderjahre in Erinnerung geblieben.

Die Puppenproduktion

Die folgenden Ereignisse bekam ich nur am Rande mit, weil sich diese in der Grillparzerstraße zutrugen und ich, wie bereits erwähnt, in der zweiten und dritten Klasse der Volksschule größtenteils bei meinen Großeltern in der Bahnhofstraße lebte.
In der Nachkriegszeit gab es, wie bei vielen nicht unbedingt notwendigen Produkten, einen Mangel, der nur durch Eigeninitiative behoben werden konnte. Das betraf auch Spielzeug, insbesondere die von den Mädchen heiß begehrten Puppen. Die Mutter und die Besitzerin einer Spielwarenhandlung in der Sierninger Straße kamen bezüglich Produktion selbst hergestellter Puppen zu einer Einigung, die näher betrachtet, sehr einseitig und zu Ungunsten der Mutter, was die Relation von Material, Zeit und Verdienst betraf, ausfiel.
Der Stoff für die Puppenkörper stammte von Leintüchern, die Körperfarbe erhielten. Die Einfärbung des Stoffes geschah in großen Töpfen mit kochendem Wasser auf dem Gasherd. Woher die Puppenköpfe stammten, habe ich nie nachgefragt. Sie bestanden aus übermaltem Papiermachee und sahen sehr echt aus, da sie auch die Augenlider bewegen konnten. Die Mutter nähte nach vorgezeichneten Schnittmustern mit der Maschine den Rumpf und die einzelnen Gliedmaßen. In Form gebracht wurden die Teile mit eingestopfter Holzwolle. Den Einnähern bei den Fingern und Zehen galt die besondere Vorsicht. Das Einstopfen erfolgte mit einem dünnen Kochlöffelstiel. Die aufwändigste Arbeit kam erst mit der Bekleidung nach dem Zusammenbau der Körperteile. Die Mutter verbrachte halbe Nächte damit und verwendete besonderes Augenmerk und Sorgfalt darauf, jeder Puppe ein spezifisches Aussehen zu verleihen. Einmal war ich dabei, als wir die große Einkaufstasche, gefüllt mit einer neuen Puppenlieferung, in das Geschäft trugen und dort bei der Frau Beranek, so hieß die Besitzerin des Ladens, abgaben.

Opa und Oma

Die zweite und dritte Klasse der Volksschule verbrachte ich, wie bereits erwähnt, bei meinen Großeltern in der Bahnhofstraße. Der Großvater hieß, wie mein Vater, Fritz und war Jahrgang 1887.
Er konnte als Arbeiterkind die vierjährige Staatsgewerbeschule in Steyr besuchen, seine Mutter war in der Nagelfabrik der Firma Werndl in Unterhimmel beschäftigt und starb 1920 bei der Grippepandemie. Im Ersten Weltkrieg musste er nicht einrücken, er war unabkömmlich gestellt, weil er in der Brotfabrik Reder eine Stelle als Buchhalter inne hatte. Später wechselte er in die Steyrer Gebietskrankenkassa. Dort war er Kassier und für die Auszahlung der Krankengelder zuständig.
Er hatte es bei seiner Tätigkeit auch mit Fremdarbeitern aus verschiedenen Nationen zu tun, die als Folge des Krieges in Steyr gestrandet waren. Als sich einmal ein Grieche über den geringen ihm amtlich zuerkannten Betrag aufregte, sagte er zum Opa: „Wenn Du kommen Griechenland, ich Dich nicht einmal lassen auf mein Abort.“ Eines Tages brachte er eine Neuerung mit nach Hause, den ersten Kugelschreiber, der jedoch so patzte, dass er mir seine Benützung verbot.

Oft war ich nach der Schule in Opas Büro, machte auf einem kleinen Tischchen meine Hausaufgaben, las ein wenig und stempelte zur Vertreibung der Langeweile unzählige Krankenscheine. Nach 14.00 Uhr gingen wir gemeinsam zur Oma, die mit dem Mittagessen auf uns wartete.
Die Wohnküche der Großeltern lag südseitig. Aus ihren beiden Fenstern konnte ich zum Bahnhof, auf die Ennsleite, zur Evangelischen Kirche und zur Stadtpfarrkirche sehen. Das Essen bereitete die Oma auf einem zweiflammigen Gasherd, der auf dem Ofen stand, zu. Der Gasherd wurde allgemein mit Rechaud (Rescho gesprochen) bezeichnet. Sie konnte gut kochen, was in der unmittelbaren Nachkriegszeit wegen des Lebensmittelmangels nicht einfach war. Selbst wenn man Geld hatte, nützte das nichts, da nur mit Marken etwas zu kriegen war.

Die Oma hieß eigentlich mit Vornamen Josefine, das erfuhr ich allerdings erst später, weil die ganze Verwandtschaft sie Pia nannte. Sie war die Tochter des Tischlermeisters Böhm aus dem Steyrer Ortsteil Aichet und hatte zur Aussteuer eine Kredenz, eine Abwaschkommode mit zwei ausziehbaren Blechbecken, einen Tisch und vier Stühle erhalten.
Ihr besonderer Stolz war das zur Bahnhofstraße ausgerichtete, mit dunklen Möbeln bestückte Wohnzimmer, welches diesen Namen gar nicht verdiente, denn nur zu Weihnachten trat das sonst reine Schaustück in Funktion. Schon zwei Tage vorher musste der Opa den Kachelofen bedienen, damit es im Raum einigermaßen warm wurde.
Von der Oma sind mir Redewendungen in Erinnerung geblieben, die sie oft verwendete. Wenn sie bei ihren Zimmerpflanzen herum hantierte, sagte sie: „Was die Natur nicht so alles schafft“ und wenn sie zu ihrer Gesundheit angesprochen wurde, „Man kennt halt ein jedes Jahr“.
Einmal regte sie sich über einen Artikel im Tagblatt derart auf, dass sie den Opa bedrängte, das Abonnement der Zeitung zu stornieren. Sie hatte in einer Überschrift gelesen „72-jährige Greisin verunglückt“ - „Ich bin schon 75ig und noch lange keine Greisin“, schimpfte sie. „Ein Redakteur, der so etwas schreibt, gehört entlassen!“, „eine solche Frechheit lasse ich mir nicht bieten!“
Den Opa brachte das nicht aus der Ruhe.

Von ihm wäre noch nachzutragen, dass er immer von einem eigenen Haus träumte und Pläne dazu entwarf. Seine finanziellen Mittel reichten weder für einen Grundkauf, noch für einen Hausbau. Ins Gasthaus ging er nie! Sein einziges Hobby war der Arbeiter-Sängerbund-Stahlklang, dem er sich in der Jugend als Sänger und später als Funktionär zur Verfügung stellte. Opa und Oma waren Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Am pompösen Maiaufmarsch zum Steyrer Stadtplatz nahmen sie nie teil, sondern verfolgten ihn von der Straße aus.
Wenn der Opa mit der Oma Ärger hatte, ging er heimlich ins Wohnzimmer und nahm einen Zug aus der Flasche. Er nannte das „Stern gucken!“




Freitag, 15. Oktober 2021

Erinnerungen an die Jahre 1943 bis 1947 von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 6

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.




Zeichnungen von Bürgerschuldirektor und Maler aus Steyr Alois Lebeda. Im Schuljahr 1904/1905 unterrichtete er Adolf Hitler und 1928/1930 Bundespräsident Rudolf Kirchschläger.  

Die Großmutter

Sie war eine seelensgute Haut. Ich kann nur das Beste über sie berichten, unter anderem auch deswegen, weil sie uns in der schwierigen Situation nach dem unerwarteten Tod meines Vaters, selbst erst vor kurzem zum zweiten Mal Witwe geworden, aufnahm und mit versorgte.

Ihre erste Ehe ging sie mit einem Herrn Rauscher ein. Mit diesem hatte sie einen Sohn, den Onkel Sepp, der allerdings in Wiener Neustadt lebte. Zum zweiten Mal verheiratet bekam sie 1909 den Onkel Fritz und 1910 meine Mutter Leopoldine. An ihren Mann, meinen eigentlichen Großvater, der Franz Burgholzer hieß, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl es ein gemeinsames Foto von ihm und mir gibt. Auch auf weitere Daten kann ich nicht zurück greifen. Er starb im August 1946, drei Monate vor meinem Vater, wahrscheinlich an Krebs.

Die Großmutter führte den Haushalt, das heißt sie war für den Verzehr zuständig. Zum Großeinkauf im nahegelegenen Konsum erstellte sie zu Monatsbeginn eine Liste. Auf dieser schrieb sie Öl immer am Schluss mit zwei „ll“ und statt Senf „Senft“.
Unter tags saß sie häufig in einem Ohrensessel neben dem Kachelofen. Ihr Rückzugsgebiet befand sich im hinteren Teil der Wohnung, im sogenannten Kabinett. Um dieses zu erreichen oder zu verlassen, musste sie durch den gemeinsamen Schlafraum von mir und meinem Bruder gehen, dann weiter durch das Wohnzimmer, in dem die Mutter schlief.
Um niemanden während der Dunkelheit in seinem Schlaf zu stören, benützte sie einen irdenen weißen Nachttopf. Den trug sie am Morgen wie eine Kellnerin ins WC. Nach entsprechender Reinigung stellte sie ihn im Kabinett zum Trocknen auf das Fensterbrett. Das verleitete mich einmal dazu, von Mitschülern angestiftet, ein wenig Brausepulver, das wir zur Herstellung schmackhafter Getränke, verdünnt mit Wasser verwendeten, hineinzugeben. Am übernächsten Morgen ging die Großmutter mit einer Harnprobe zum Arzt. Das Ergebnis erfuhren wir nie.

Badefreuden

Die Wohnung der Großmutter verfügte über ein abgetrenntes WC, aber kein Bad. Nur ein Waschbecken und eine Abwasch hatte die Küche vorzuweisen. Benötigtes Warmwasser wurde in Töpfen von unterschiedlicher Größe am Gasherd erhitzt. Wegen der akuten Verbrennungsgefahr durfte ich nichts angreifen oder eigenständig Warmwasser holen. Bei der Morgentoilette gab es ohnehin nur kaltes Wasser.
Die Leibwäsche wechselten wir einmal pro Woche, gebadet wurden mein Bruder und ich alle 14 Tage, meist an einem Samstag.
Die Handlung glich einem Ritual:
Beim Transport der Badewanne vom Dachboden in die Küche durfte, besser gesagt musste, ich mithelfen.
Zu allererst war die Großmutter an der Reihe. Während sie Badefreuden unter Mithilfe der Mutter einschließlich Kopfwäsche genoss, durften wir Kinder das Wohnzimmer nicht verlassen. Erst nach ihrem Rückzug in ihren Schlafraum endete für uns die Warterei. Gemeinsam schöpften mein Bruder und ich das Wasser aus und gossen es in die Abwasch. Dann füllte die Mutter die Wanne für uns aufs Neue.
Ich ärgerte mich immer furchtbar, dass mein Bruder den Vorrang genoss und ich mich in seiner „Hinterlassenschaft“ suhlen musste.
Das größte Augenmerk beim Baden genossen die Füße. Da wir nach dem Krieg in Ermangelung von geeignetem Schuhwerk meist barfuß liefen, bedurfte es oft eines Bimssteines, um sie wieder einigermaßen sauber zu kriegen. Das Wiesengrün erwies sich als besonders hartnäckig, denn die täglich abends durchgeführte Fußwaschung in einem Lavoir erzielte nur in geringem Maße Wirkung.
Nach mir kam es für die Mutter zu einem neuerlichen Wasserwechsel. Dann ging es ab ins Bett, das wir, wie bei der Großmutter zuvor, ebenfalls nicht mehr verlassen durften.
Am nächsten Tag trugen wir die Badewanne wieder auf den Dachboden zurück.

Die Kaffeemaschine

Großmutters besonderer Stolz war ihre Kaffeemaschine aus Porzellan. Sie bestand aus zwei Teilen, dem oberen, in dem die Zubereitung statt fand, und in dem unteren, in dem sich der fertige Kaffee befand, nachdem er ein im oberen Teil fest integriertes Sieb durchflossen hatte. Dieses Gerät, das man als Vorläufer eines späteren Apparates mit Filter bezeichnen könnte, hieß „Karlsbader“. Es gehörte in jeden besseren Haushalt, obwohl in den meisten Fällen mangels echter Kaffeebohnen ein Getränk nur aus Kaffeeersatz damit hergestellt werden konnte.

Die Zubereitung dieses „Kaffees“ erfolgte so: Als Ausgangsprodukt diente eine sechseckige Scheibe von 1,5 cm Dicke von der Fa. Titze bzw. Franck und Kathreiner, die es in schön verpackten, etwa 15 cm langen Stangen, in jedem Lebensmittelgeschäft zu kaufen gab. Beim Zerbröseln der Scheibe mit den Fingern bemerkte man, dass sie auch Feigenbestandteile enthielt, weil man die Kerne sehen konnte. Darüber kamen dann noch frisch mit der Kaffeemühle zu Mehl zerkleinerte geröstete Malzkörner. Diese stammten aus einem Papiersack mit weißen Punkten, der die Aufschrift „Linde“ trug. Auf das Öffnen einer neuen Tüte waren alle Kinder scharf, weil sich zusätzlich zum Inhalt auch kleines Spielzeug in ihr befand. Zum Schluss gab die Großmutter noch eine Prise Salz auf die Mischung, da diese nach ihrer Meinung zur Geschmacksverbesserung beitrug.
Dann erfolgte der Aufguss mit kochendem Wasser, nicht auf einmal, sondern in Raten, damit die Flüssigkeit Gelegenheit bekam, auslaugend zu wirken. Dann war die Brühe mit etwa einem halben Liter Inhalt im unteren Teil fertig. Vom Geschmack kann ich nichts berichten, da das Getränk nur für die Erwachsenen bestimmt war. Mein Bruder und ich bekamen statt dessen eine heiße Milch oder einen Kakao.