Diese Anekdote über Anton Bruckner und seine Begeisterung für Richard Wagner von Josef R. Harrer ist in der Oberdonau-Zeitung vom 26.8.1944 nachzulesen.
Es war ein Februar-Abend des Jahres 1883; kalter Wind brauste über Wien. Anton Bruckner, den so viele verlachten und verspotteten und den nur wenige in seiner hervorragenden Größe erkannten, ging langsam durch die Gassen der Inneren Stadt. Nun kam er auf den Stephansplatz. Wieder, wie so oft in den letzten Wochen, fühlte er seltsame Trauer, während in seinem Herzen die Akkorde seiner neuen Symphonie einem Meer gleich wogten. Mit kalten Lippen summte er die Melodie des Adagios (für langsames Tempo). Seit drei Wochen arbeitete er an diesem Adagio, das in seiner Süßigkeit und schwebenden Anmut wie aus einer anderen Welt in diesen irdischen Winter herüberblühte. Bruckner blieb stehen. Er blickte zum dunklen Himmel empor, wo sich die Spitze des Stephansturmes im Ungewissen verlor Da kam ihm ein Herr entgegen. Das Licht einer Laterne fiel auf den Komponisten. Der andere stutzte, dann ging er auf Bruckner zu: "Das ist doch der Bruckner! Aber, verehrter Meister Anton, du wirst dich verkühlen! Bei dieser Kälte stehst du da und betrachtest den Turm?" Bruckner lächelte verlegen. "Schimpf nur mit mir! Du hast recht, lieber Weinwurm!"
Rudolf Weinwurm, der Chormeister des Wiener Männergesangvereines und einer der Getreuen Bruckners, schob seinen Arm unter den des Meisters. "Und jetzt wollen wir einen warmen Platz aufsuchen, sonst erfrierst du mir, mein Lieber. Oder fühlst du schon das Nahen des Frühlings? Der ist noch weit, der lebt nur unvergänglich in deiner Musik!" Während Weinwurm so sprach, näherten sie sich der Gastwirtschaft "Zum Deutschen Haus". "Eigentlich sollte ich weiter über das Adagio meiner Siebenten Symphonie nachsinnen!" meinte Bruckner. "Nichts da! Komm’ nur mit! Auch im warmen Zimmer werden die Noten bei dir bleiben!" Beim geliebten Glas Pilsener Bier plauderten sie. Bruckner sprach von seiner neuen Arbeit. "Ich glaube, lieber Weinwurm, dass ich mit meiner Siebenten Symphonie endlich großes Glück haben werde. Schon das erste Thema des 1. Satzes ist großartig!" Weinwurm traute seinen Ohren nicht. Erstaunt unterbrach er ihn: "Bruckner, du selbst nennst es so?. Du, der Bescheidenste von allen? Nie noch hast du so selbstbewusst gesprochen! Dann muss es wirklich groß sein!" "Ja!" Bruckner nickte. "Aber es ist nicht von mir! Im Traum hat mir ein Freund aus der Linzer Zeit das Thema diktiert... Muss ich da nicht endlich Glück haben?" "So bist du, Bruckner! Dir selbst schenkst du nicht das Vertrauen, dir und deiner Kraft! Aber dem Traum vertraust du! Wann wirst du endlich wissen, dass du der größte Musiker bist, der lebt!" Bruckner wehrte entschieden ab. "Das himmlische, sag’ das nicht, Weinwurm! Solche Worte sind Sünde! Das Größte ist der verehrte, der geliebte Meister Richard Wagner!"
"Richard Wagner, ja, er wäre der Größte, wenn er noch lebte!" murmelte Weinwurm. Da erbleichte Bruckner. Er starrte den Freund fassungslos an. Nur mühsam fand er die Worte. "Was sagst du? Wenn Wagner noch lebte". "Du weißt noch nicht, dass Richard Wagner gestern in Venedig gestorben ist?" Da faltete Anton Bruckner die Hände. Leise, fast zu sich allein, sagte er: "So ist es doch geschehen, was ich seit Wochen fürchtete, was mich traurig machte, was immer in der Zeit, da ich am Adagio arbeite, wie ein drohender Schatten um mich war, was mich auch heute abends so bedrückt wie eine schwere trübe Last!... So ist Wagner tot, der Geliebte, der Größte!... Dem steten Denken an den Leidenden in Venedig verdanke ich das Adagio. Immer wieder versuchte ich in Tönen Trost und Hoffnung zu erlangen.., und jetzt ist er tot!... Jetzt werde ich das Adagio, das unfertige, beenden müssen, während Wagner kalt und tot auf der Bahre liegt. Ja, ich werde das Adagio als eine Trauerweise bilden, die ihm gilt, meinem lieben Richard Wagner, meinem toten Wagner!" Er verstummte. Auch Weinwurm, vom Leid Bruckners gerührt, sprach kein Wort. Bald schieden die Freunde...
Anton Bruckner wanderte durch die winddurchtobte Nacht heimwärts. Ihm war, als stürmten von allen Seiten die Klänge auf ihn ein. Laut und gewaltig waren die feierlichen, überirdischen Töne der Nibelungentuben (Blechblasinstrumente) Wagners, die in sein Adagio hinüber griffen. Noch in der gleichen Nacht schrieb Anton Bruckner an dem Adagio; und er schrieb damit die größte Trauermusik, die je ein Komponist einem anderen Komponisten gewidmet hat: das himmlische Adagio seiner Siebenten Symphonie.
Anton Bruckner ( geb. 1824 in Ansfelden, gest. 1896 in Wien) |
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