Über eine seltsame Pilgerfahrt zu unserem großen Heimatdichter schrieb Wilibald Böhm, in der Oberdonau Zeitung am 1.1.1943.
Stifter stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah hinaus. Draußen trieb ein wütender Sturm den Schnee vor sich her. Noch vor einer Viertelstunde, als der Dichter von einem Morgenspaziergang durch die stillen Gassen der Stadt Linz zurückgekehrt war, lachte der Himmel und die Sonne spiegelte in der Flut des Donaustromes goldig und hell. "Der April tut, was er will", brummte er verdrießlich, wandte sich um und zündete sich, um seinen Unmut zu verscheuchen, eine lange Zigarre an. Dann schritt er zu seinen geliebten auf riesigen Gestellen stehenden Kakteen. Plötzlich aber erinnerte sich Stifter, dass ihm auf seinem Spaziergang ein Brief ausgehändigt wurde, den er in Gedanken versunken, in seinen Überrock gesteckt hatte. Er holte ihn nun, trat wieder ans Fenster und las:
"Mein Herr! Am 16. April d. J., nachmittags 3 Uhr, wird im Restaurant des Hotels "Zum Erzherzog Karl" in Linz ein Mann sitzen, der mit Ihnen ein Glas Wein trinken will. Er reist zu diesem Zweck dahin und bittet Sie, sich zu genannter Stunde im genannten Lokal einfinden zu wollen.
Amsterdam, den 3. April 1863. John Benotts."
Das Schreiben setzte Stifter in Erstaunen. John Benotts?! Der Dichter wiegte nachdenklich den Kopf. Er konnte sich nicht entsinnen, den Namen jemals gehört zu haben. Wie konnte übrigens der Amsterdamer wissen, ob er am 16. April in Linz sein würde?! Hatte er doch als Landesschulinspektor auch öfter auswärts zu tun! — Da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Konnte sich nicht ein Spaßvogel unter seinen Bekannten einen Aprilscherz mit ihm erlaubt haben?!
Trotzdem und ungeachtet des strömenden Regens, der sich an dem genannten Tage über der Stadt ergoß, begab sich der Dichter einige Minuten vor drei Uhr in das nebenan liegende Hotel "Zum Erzherzog Karl". Im Gastzimmer traf er nur zwei alte Herren aus der Nachbarschaft an, die hier ihre Pfeifen rauchten und spielten. Er nahm an einem runden Tischchen Platz, bestellte ein Glas Bier, trank aber nicht davon. Geduldig, wie er war, wartete er auf die Ankunft des Holländers. Da bemerkte er, dass in unmittelbarer Nähe des Ofens ein kleiner, alter Mann saß, dort seinen nassen Mantel trocknete und mitunter seine Augen nach der Eingangstür richtete, als wenn er jemand erwarten würde. Nach einiger Zeit winkte der Fremde den Kellner zu sich, sprach mit ihm ein paar leise Worte, worauf dieser mit der Hand nach dem runden Tischchen wies, wo Stifter saß.
Jetzt humpelte der kränklich aussehende, gebückte Mann zu dem Dichter, starrte ihn ein Weilchen an und fragte in einem fremdländisch klingenden Ton: "Sind Sie es, der Dichter Adalbert Stifter"? "Ich heiße Adalbert Stifter", gab jener schlicht zur Antwort. "Ich danke Ihnen", versetzte daraufhin der Mann. "Ich bin John Benotts aus Amsterdam". Nach diesen Worten rückte er einen Stuhl zurecht und setzte sich gegenüber dem Dichter an den Tisch. Wortlos sah er eine geraume Weile in dessen faltiges Gesicht, sich dabei einige Male über sein langes graues Haupthaar streichelnd. Dann fragte er: "Welchen Wein lieben Sie?" Der Dichter, der sich das sonderbare Verhalten des Holländers nicht gut erklären konnte, antwortete kurz: "Rheinwein". Der alte Mann rief den Kellner herbei und befahl: "Bringen Sie eine Flasche Rüdesheimer, und zwar einen vom Besten!" Nachher schenkte der Fremde die Römer (Gläser) voll und stieß schweigend mit dem Dichter an. Und als sie weiter tranken, wechselten sie nur wenige Worte, und der Alte betrachtete immer noch die Gesichtszüge des Dichters. Als die Flasche leer geworden, erhob sich der Holländer, trat vor den Dichter hin, neigte sich zu ihm und flüsterte: "Ich habe eine Bitte an Sie. Wird sie erhört werden?" "Sprecht die Bitte aus", sagte Stifter freundlich. "Wenn es mir möglich ist, will ich sie gern erfüllen". Der Amsterdamer blickte dem Dichter tief in die großen, graublauen Augen. Dann sprach er mit leiser Stimme: "Adalbert Stifter! Würdet Ihr gestatten, dass ich Euch auf die Stirne küsse?" Stifter stand auf und sagte: "Des Menschen Stirn ist von Gott geweiht. Küsset sie". Da strahlte das Gesicht des Holländers vor Freude, sanft legte er seinen rechten Arm über die Schulter des Dichters, drückte einen ehrfurchtsvollen Kuss auf dessen hohe Stirn und sprach: "Ich danke Ihnen für alles Glück das Sie mir geschenkt haben. Adalbert Stifter, leben Sie wohl"! Er sah dem Dichter noch einmal in die Augen, wandte sich dann um, ging in das Vorzimmer, wo er die Rechnung beglich, trat hernach auf die Straße, stieg dort in einen bereitstehenden Wagen und fuhr zum Bahnhof.
Zu Hause angekommen, erzählte Stifter seiner Gattin Amalie, welch seltsame Begegnung er heute gehabt hatte. Kopfschüttelnd hörte die Frau zu und meinte dann: "Der Mann muss wohl ein verschrobener Sonderling sein". "Deine Vermutung kann richtig sein", entgegnete der Dichter ernst, "aber du kannst dich auch irren". Nach einigen Wochen erhielt Stifter von diesem Mann ein zweites Schreiben. Es lautete: "Mein teurer Dichter! Der Mann vom 16. April wird Ihnen sonderbar erschienen sein. Derselbe hat Ihre "Studien" gelesen und ist von diesen Dichtungen so oft und so tief ergriffen worden, dass allmählich in ihm der unbezähmbare Wunsch entstand, einmal die begnadete Stirn des Dichters zu küssen. Darum reiste er nach dem fernen Österreich, auf geradem Wege hin und auf geradem Weg zurück, ohne Aufenthalt, ohne anderen Zweck als den, Ihnen seinen großen Dank zu bezeigen. So ist es geschehen und ich bin nun wieder in meinem Hause. Die Pilgerfahrt zu meinem Dichter der "Studien" zählt zu dem wenigen Schönen, was ich in diesem Leben getan habe. Adalbert Stifter! Segne Sie der Himmel für alle Wohltat, die Sie mit Ihren Dichtungen den Menschen erwiesen haben und erweisen werden.
Amsterdam, 4. Mai 1863. John Benotts.
Stifter las diesen Brief seiner Frau vor und fragte: "Amalie, was meinst du nun? Ist dieser Mann ein verschrobener Sonderling?" Die Frau schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie, "er ist ein Mensch, den das Herz regiert". Seitdem hatte der fremde Mann dem Dichter nicht mehr geschrieben. Er war aber aus Stifters Gedächtnis nicht entschwunden. Noch wenige Tage vor seinem Tode soll er sich geäußert haben, dass ihn sein Lebtag keine andere Huldigung so seltsam berührt und so tief bewegt hätte, wie die Pilgerfahrt des alten Holländers.
Adalbert Stifter (geb.1805 Oberplan, gest.1868 Linz) |
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