Freitag, 26. November 2021

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg erinnert sich an seine Kindheit 1943 bis 1947 - Teil 12


Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Weihnachten 1947

An das Fest dieses Jahres stellte ich keine Ansprüche Es schien auch so zu vergehen, wie die Abende vorher. Um halb acht Uhr ins Bett und aus …

Es kam dann doch etwas anders. Als es dunkel wurde, zauberte der Opa plötzlich einen kleinen Fichtenwipfel mit einer Höhe von etwa 40 cm hervor und sagte, dass ich ihn aufstellen und schön schmücken solle. Nach einer kurzen Diskussion mit der Oma kam das Bäumchen in einen Kochtopf aus Blech mit etwas Wasser am Boden. Die untersten Äste und der Rand des Topfes machten ihn stabil. So kam er auf der Abwasch zur Aufstellung.
Bei der Behängung mit Silberstreifen, sogenanntem Lametta, verfuhr ich äußerst großzügig, sodass die Oma meinte, man solle auch das Grün der Zweige noch gut sehen können. Kerzen für die Beleuchtung fand ich keine, nur ausgebrannte Halterungen aus vergangenen Jahren. Dennoch gab es etwas zum Aufhängen. Die Tante Herta stellte sich mit zehn Krachmandeln ein, die ich sorgsam in beiderseits ausgefranstes Papier wickelte. Das Aufhängen der Süßigkeiten bereitete mir Schwierigkeiten. Mit einer Schnur konnte ich leicht einen Knoten binden, mit dem dünnen weißen Zwirn brachte ich keinen zusammen.
Der Opa leistete zum Baum auch einen Beitrag. Er fertigte aus Karton einen fünfzackigen Stern an, bemalte ihn mit roter Farbe und heftete ihn an die Spitze des Baumes. Damals ist mir die Symbolik seines Tuns nicht bewusst geworden. Er wollte damit seinen Bruder Alois, der nach 12 Jahren im Exil aus der Sowjetunion aus Steyr zurückgekehrt war, ein wenig ärgern, weil dieser Weihnachten ablehnte und wie die Russen alle, nur dem „Väterchen Frost“ huldigte.
Ein Geschenk bekam ich auch. Es befand sich in einer kleinen Schachtel. Als ich sie öffnete, fiel eine Maus aus Metall in Lebensgröße mit einem Schlüssel zum Aufziehen heraus. Die Freude darüber verflog rasch, denn nach jedem Freilauf verkroch sich das Ding irgendwo unter einem Möbelstück und war nur unter Verwendung von Hilfsmitteln hervor zubringen.
Bei meinem nächsten Besuch in der Grillparzerstraße startete ich den Versuch, die Maus gegen die Puppe, die mein um drei Jahre jüngerer Bruder vom Christkind erhalten hatte, einzutauschen. Ohne Erfolg.
Aus purer Lust und Neugierde drang ich etwas später mit Opas Werkzeug in das Innenleben der Maus vor. Das tat ihr überhaupt nicht gut, denn plötzlich sprang sie in zwei Teile samt der Aufzugsfeder auseinander und segnete so für immer das Zeitliche.

Die Steyrtalbahn

Mit Ausnahme der beiden Schuljahre, die ich bei Oma und Opa in der Bahnhofstraße verbrachte, begleitete mich die Steyrtalbahn während meiner gesamten Pflichtschulzeit.
Sie bestand seit 1889 als Schmalspurbahn mit 760 mm Schienenbreite, fuhr ausschließlich im Dampfbetrieb und stellte die Verbindung der Ennstalbahn mit dem Ausgangspunkt Garsten mit der Kremstal-Phyrnbahn mit dem Endpunkt Klaus her. Seit 1985 wird die Strecke Steyr – Grünburg als Museumsbahn privat betrieben.
Die Schienen verliefen von Garsten kommend, über mehrere ungesicherte Kreuzungen zum Lokalbahnhof Steyr. Die leicht abfallende Trasse führte ca. 200 m nur durch einige Bäume, einen Bach und eine Wiese getrennt an unserem Wohnhaus vorbei.
Jeden Morgen erfüllte das mehrmalige Pfeifen der Lok beim Frühzug Richtung Grünburg die Funktion eines Weckers. Die Gegenzüge mussten ordentlich schnaufen, damit sie die Steigung bewältigen konnten. Besonders in der dunklen Jahreszeit sprühten dabei die Loks Funken und Dampf aus – ein herrliches Schauspiel.
Ältere Spielkameraden machten sich einen Spaß daraus, bei einem Güterzug gleich hinter dem Bahnhof auf einen der hinteren Waggons aufzuspringen und ein Stück bergauf Richtung Garsten mitzufahren. Es sollen auch ein paar Lausbuben im Herbst bei der Rübenkampagne die Schienen wenige Meter mit Schmierseife bestrichen haben, sodass sich die Räder der Lok durchdrehten. Der Zug rollte verkehrt in den Lokalbahnhof zurück. Erst als man einige Waggons abhängte, gelang der zweite Versuch. Die wahre Ursache dieser Betriebsstörung wurde nie bekannt.

Mit dem Opa hamstern

Dieser Begriff und die damit verbundene Tätigkeit sind heute völlig aus dem Gebrauch verschwunden. In den Nachkriegsjahren verstand man darunter den Tauschhandel von Wertsachen und Dienstleistungen gegen Lebensmittel bei den Bauern der näheren und weiteren Umgebung. Begehrte Objekte beim Hamstern waren: Eier, Butter, Rahm, Topfen, mitunter auch Milch, ein Stück Schweinernes oder Geselchtes. Auch Honig, Obst und Mehlspeisen zählten dazu. Das Hamstern lieferte Produkte des täglichen Bedarfes, die der öffentliche Markt nicht zu liefern imstande war.
Deshalb ging der Opa zu einigen Bauern hamstern, die er schon von seinen Wanderungen in das Ennstal in der Vorkriegszeit kannte. Manchmal war ich auch mit von der Partie, weil dabei für mich gelegentlich etwas abfiel. Zum Beispiel ein Butterbrot, ein Stück Kuchen oder im Herbst Zwetschken.
Einmal sagte eine Bäuerin zu mir: „Bua wüst a Kohramern “? (
Kohramern: In der Früh aßen die Bauern das Koch. Es ist mit einem Grieß- oder Reisauflauf oder mit einem Sterz in der Steiermark vergleichbar. An den Rändern der Pfanne oder Rein bildeten sich Krusten, die „Ramer“ hießen). Ich schaute fragend zum Opa hinüber:
„Sag bittschön und glei danke, des is wos guads“, antwortete er. Bei einem anderen Bauern, den wir beim Hamstern aufsuchten, saßen Holzknechte am Tisch, denen die Hausfrau eine große Rein mit Hausmannskost vorsetzte. Zu denen sagte sie: „Essts bis enk d´Fettn vo da Pappn owa rinnt.“ Der Opa erzählte von diesem Zuspruch zu Hause und mokierte sich über die rüde Ausdrucksweise der Bäuerin.
Vom Stodertal her waren mir Dialektausdrücke unter anderem, wie „me denn“ statt „warum“ bekannt. Trotzdem verstand ich die Leute südlich von Steyr nicht immer und musste mir den Sinn des Gesprochenen zusammen reimen. Es fiel mir auch auf, dass die Landkinder gegenüber ihren Eltern eine andere Anrede benutzten und statt dem „Du“ ein abgewandeltes „Sie“ verwendeten. Sie sagten zum Beispiel: „Vater habt`s es“ oder „Mutter kinnt`s es“ oder „Kinnt`s enk erinnern“.
Auf dem Nachhauseweg nach dem Hamstern musste ich ca. 100 Meter vor dem Opa gehen und nach Gendarmen Ausschau halten, die unsere Habseligkeiten beschlagnahmen konnten. Zum Glück kam das nie vor, auch nicht, wenn der Opa alleine unterwegs bei seinen stundenlangen Sammelzügen war.

Freitag, 19. November 2021

Erinnerungen an 1943 bis 1947 - Teil 11

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Die Wiederverwertung

In der Nachkriegszeit herrschte praktisch Mangel an allem. Daher wurde auch nichts weggeworfen und bei jedem Gegenstand die Benützungsdauer bis zur Unbrauchbarkeit hinausgeschoben. Das betraf Kleidung und Schuhe genauso wie Werkzeug und technische Geräte. Allen Dingen widmete man aus Sorge um die Wiederbeschaffung große Sorgfalt. Gebrauchtes hatte einen hohen Stellenwert und wurde immer wieder weitergegeben. Passgenauigkeit, Herkunft und Qualität der Waren spielten eine untergeordnete Rolle. Abnehmer fanden sich immer. Geflicktes und Gestopftes wurde als notwendig und nicht abwertend empfunden.
Wer, wie unsere Mutter, eine Nähmaschine besaß und es verstand, damit umzugehen, konnte sich glücklich schätzen und für den Eigenbedarf und gegen Entgelt für andere arbeiten. Die begehrtesten Stoffe stammten damals von den Offiziersuniformen der Deutschen Wehrmacht. Sie hatten eine hohe Qualität und boten zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten. Bevor sie allerdings einer zweiten Nutzung zugeführt werden konnten, musste man sie zunächst fein säuberlich auftrennen, dann waschen, allenfalls wenden und färben.
Nachdem ich mich bei einigen Reststücken als verwendbar erwies, durfte ich mit einer Rasierklinge bei der Zerteilung helfen. Diese Tätigkeit machte mir Freude, weil es dabei auf Genauigkeit und Ausdauer ankam. Stundenlang beschäftigte ich mich damit, Schneider wollte ich aber nie werden. Nur die Futterstoffe mochte ich nicht, weil sie sich komisch anfühlten und leicht durch die Finger rutschten.
In dieser Zeit standen noch die Kniebundhosen, Knickerbocker genannt, hoch im Kurs. Die Mutter nähte mir aus einem Mantelstoff für die kalte Jahreszeit eine, die ich mehrere Jahre verwendete, weil sie gleichsam mit mir mitwuchs.

Der 1. Mai

Nach vier Jahren Austrofaschismus zwischen 1934 und 1938 und der Nazi-Diktatur von 1938-1945 erlangte gerade in Steyr in den ersten Nachkriegsjahren der 1. Mai als Festtag der Arbeiterschaft wieder besondere Bedeutung.

Schon am frühen Morgen strömte aus verschiedenen Richtungen kommende Blasmusik in die Wohnung. „Das ist der Weckruf“, sagte der Opa, „damit die Leute aus den Stadtteilen bei den einzelnen Sammelplätzen zusammenkommen.“ Er holte seinen besseren Anzug aus dem Kasten und nach dem Frühstück gingen wir in die Bahnhofstraße hinunter, wo bereits reges Treiben herrschte. Die Leute standen in Gruppen um Fahnenträger beisammen, Funktionäre verteilten Flugblätter und ältere Frauen verkauften kleine rote Nelken aus Papier, die sie selbst angefertigt hatten. Besonders beeindruckten mich die von Jugendlichen geschmückten Fahrräder, die sich zwischen die Leute schlängelten. Sie hatten in die Speichen rote und weiße Bänder aus Krepppapier geflochten.
„Gehen wir auf den Stadtplatz“, meinte der Opa, „dort treffen dann die aus mehreren Seiten einmarschierenden Gruppen zur großen Kundgebung zusammen“.
Von dem, was über Lautsprecher auf mich eindrang, verstand ich gar nichts. Mit einem derartigen Rummel kam ich nicht zurecht. Nach dem allgemeinen im Chor gesungenen „Lied der Arbeit“ löste sich die Kundgebung rasch auf, nur einige Gruppen blieben stehen, weil sie hören wollten, was die Kommunisten, die im Anschluss an die Sozialdemokraten mit einem Aufmarsch demonstrierten, zu melden hätten.
„Opa“, sagte ich, „da ist ein Würstlstand, da riecht es gut“. „Das ist nichts für uns, Würstl isst man nicht auf der Straße, sondern daheim“, antwortete der Opa knapp. „Eventuell macht uns die Oma einmal welche“.
Der Aufmarsch der Kommunisten unterschied sich von den Teilnehmern her gesehen nicht wesentlich von jener der Sozialdemokraten, nur dass er zentral über die Bahnhofstraße, die Enns und die Enge Gasse auf den Stadtplatz führte. „Hören wir uns an, was der Onkel Lois als einer der Redner von der Tribüne vor dem Rathaus aus sagen wird“, meinte der Opa. „Er wird sicher die Vorzüge der Sowjetunion hervorheben“.
Es dauerte nicht lange, bis die am Stadtplatz verbliebenen Sozialdemokraten bei der Rede des Onkel Lois zu skandieren begannen. „Verräter“! „Warum bist wieda kemma, wanns eh dort in Russland so schen is“ ….
Mir war das alles fremd und ich begann mich zu fürchten, noch dazu, weil mir um den Onkel, den ich an sich mochte, Angst und Bang wurde. Ich drängte zum Heimweg, den ich zusammen mit dem Opa antrat. Unterwegs war ich ganz still, denn der Opa führte halblaut Selbstgespräche. Als ich einmal eine Frage stellte, blieb diese unbeantwortet, wie viele andere, von denen ich immer wieder hörte, „das ist nichts für dich“, „dazu bist du noch zu klein“, „das erfährst du alles einmal später, wenn du größer bist und die Zusammenhänge erkennen kannst“.

Alltägliches 1947

Es war wirklich kein schöner Herbst in diesem Jahr. Drei Monate waren erst seit dem Begräbnis meines Vaters vergangen. Der Oma ging es dementsprechend schlecht, sie weinte dauernd. Sie hatte den einzigen Sohn, der nur 36 Jahre alt wurde verloren, der den Krieg und die Gefangenschaft wohlbehalten überstanden und eigentlich leichtsinnig im Toten Gebirge starb.
Der Opa zeichnete in seiner Freizeit an seinem Traumhaus herum und machte dazu Entwürfe, wohlwissend, dass er seine Ideen nie in die Tat würde umsetzen können.
In Steyr beschäftigte man sich mit dem Wiederaufbau der zerbombten Häuser und verwertete aus den Ruinen alles Brauchbare. Die Ziegel wurden des anhaftenden Mörtels entledigt und zu Haufen gestapelt. Diese Arbeit besorgten hauptsächlich Frauen.
Auf meinem täglichen Schulweg über die Ennsbrücke studierte ich das zuhauf in den Fluss geworfene Kriegsmaterial. Mitunter blieben Erwachsene stehen und erklärten mir die einzelnen Teile. Oft war die Enns so schmutzig, dass man nicht bis zum Grund sehen konnte. Verursacht wurde das durch den Kraftwerksbau an ihrem Oberlauf.
Probleme hatte ich mit den Schuhen. Sie waren entweder zu klein oder zu groß und stammten alle von den Erwachsenen. Zum Glück hatte die Tante Herta, die Schwester meines Vaters kleine Füße. Ihre Schuhe konnte ich zeitweise tragen, wenn der Opa die Absätze kürzte. An Oberbekleidung fehlte mir nichts, da die Mutter mit ihrem Talent für die Schneiderei immer wieder Abhilfe schaffen konnte. Ansprüche und Begehrlichkeiten im heutigen Sinn lagen weit außerhalb meiner damaligen Vorstellungswelt. Bereits Getragenes oder Verwendetes wechselte oft mehrmals ohne Murren den Besitzer.

Freitag, 12. November 2021

Ein neuer Anfang -1943 bis 1947- Teil 10

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Die Schultasche

Sie hatte zwei hölzerne Seitenteile, auf die das sie umgebende Leder genagelt war. Der Verschluss bestand aus zwei Schließen. Hinten waren zwei Riemen zum Tragen angebracht. Das hölzerne Pennal mit einem Schubfach ergänzte die Grundausstattung. Ihr Inneres enthielt den Bleistift, einige stumpfe Farbstifte, in der zweiten Klasse den Griffel für die Schiefertafel und den Radiergummi.
Letzterem galt unsere besondere Aufmerksamkeit, denn er entwickelte sich zum Objekt der Begierde. Zahlreiche Raufereien unter den Mitschülern fanden wegen eines Radiergummis statt.
An der Schultasche hing außen an einem Verbindungsfaden zur Schiefertafel im Inneren ein Schwamm und ein Fetzerl zum Löschen des Geschriebenen oder Gezeichneten. Ein an einer Schnalle befestigtes Häferl aus Metall mit etwa zwei Deziliter Inhalt ergänzte die Ausrüstung. Wenn wir im Rudel liefen, erzeugten die Häferl einen besonderen Klang.
Im Winter benützten wir die Schultasche als Schlitten und fuhren damit den Schlossberg bis nach Zwischenbrücken hinunter. Dieser war dadurch so vereist, dass sich die Fußgänger nur am seitlichen Geländer haltend hinauf begeben konnten

Die Überwindung des Mangels

Es sprach sich herum, dass in der Artilleriekaserne am Steyrer Tabor Schleichhändler tätig wären, bei denen man Lebensmittel, Alkohol und Tabakwaren gegen Bargeld kaufen könne. Die Mutter interessierten nur die Erstgenannten. Aus diesem Grund machten wir uns auf den Weg, außerhalb der Lebensmittelmarken etwas zu ergattern.
Die Ware wurde nicht öffentlich angeboten, man musste sich zunächst bei den dort Hausenden durchfragen und das gewünschte Produkt nennen. Wir suchten nach Pflanzenöl, das wir für den Salat benötigten.
Die ganze Kaserne war randvoll mit Menschen, Flüchtlingen, ganzen Familien mit Kindern, Ausgebombten, entlassenen Fremdarbeitern, KZ-Überlebenden, Heimkehrern usw.
Trotz dieser Vielfalt herrschte Ordnung, wofür wahrscheinlich die dort tätigen Hilfsorganisationen sorgten. Decken, die an etwa zwei Meter über dem Boden angebrachten Seilen hingen, bildeten Kojen. Sie ermöglichten zwischen ihren Bewohnern ein gewisses Maß an Intimität. Das ganze Leben spielte sich am Fußboden ab. An Mobilar oder Betten habe ich keine Erinnerung. An den Mann, der uns das Öl verkaufte, schon. Er hatte die Ein-Liter-Flasche in der Innentasche seines weiten Mantels versteckt. Nachdem die Mutter mit ihm das Geschäftliche abgewickelt hatte, verließen wir, ohne auf plötzlich auftauchende Warenangebote anderer Händler einzugehen, den absurden Handelsplatz.

Die Wohnung meiner Großmutter lag im zweiten Stock eines Mehrparteienhauses in der Grillparzerstraße. In ihrer unmittelbareren Nähe konnte man kleine Parzellen mieten (a
n dieser Stelle befindet sich heute die Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land) und Gemüse anbauen, was einige Nachbarn auch taten. Die Mutter und die Großmutter hielten nichts vom Garteln, da sie der Meinung waren, dass sich das bei unserer Haushaltsgröße nicht lohnen und der Ertrag den Aufwand nicht rechtfertigen würde. Die Mutter arbeitete vor ihrer Ehe in der Buchhaltung der Steyrer Konsumzentrale, sie kannte sich dadurch bei der Kosten-Nutzen Rechnung aus.
Ich glaube, es war im Juli 1947, da bekamen wir eine Menge Ribisel geschenkt, die sofort den Weg ins Marmeladenglas fanden. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Zum Süßen und zur Haltbarmachung fehlte die erforderliche Zuckermenge. Eine Schnitte Brot mit Margarine als Unterlage und darauf Ribiselmarmelade schmeckte später erst dann köstlich, wenn die Mutter mir und meinem Bruder erlaubte, ein wenig Kristallzucker mit zwei Fingern über die Ribisel zu streuen.
Neben dem Kriegerdenkmal an der Steyrer Stadtpfarrkirche befand sich eine Brothütte, aus der besonders am Morgen der herrliche Duft nach frischem Gebäck strömte. Ein Weckerl kostete damals 16 Groschen. Wenn ich genug Geld beisammen hatte, konnte ich nicht widerstehen und kaufte mir eines auf dem Schulweg. Die Frau am Kiosk fragte jedes Mal: „Wüst a Weckerl mit an Soiz oder wüst a Weckerl ohne an Soiz?“


Rares gegen Bares

Zwischen den Bahnhöfen Garsten und Steyr befand sich eine Haltestelle der Steyrtalbahn mit dem Namen Sarning. Sie bestand nur aus einer Hütte, in die man sich bei Unwettern flüchten konnte. Der Opa nannte diesen Ortsteil „Halbgarsten“, weil sich dort die ehemalige Brotfabrik Reder befand, wo er in seinen ersten Ehejahren eine Stelle als Buchhalter inne hatte und mit seiner Familie dort lebte, ehe er in die Bahnhofstraße übersiedelte. Jahrzehnte war an der Außenmauer des zur Fabrik gehörenden Wohngebäudes ein mit blauer Farbkreide gezeichneter Männerkopf zu sehen, den angeblich mein Vater als Jüngling gezeichnet hatte. Das nur so nebenbei, denn der folgende Bericht beschäftigt sich mit einem wesentlich anderen Thema.
Hinter der oben erwähnten Haltestelle hatte ein Alteisenhändler seinen Betrieb aufgeschlagen. Vorne, zur Leopold-Werndl-Straße hin, befanden sich der Eingang und die Geschäftsbaracke. Um das gesamte Gelände führte ein hoher Zaun, damit nichts geklaut werden konnte.
Ich brauche nicht extra erwähnen, dass nach dem Weltkrieg Buntmetalle sehr hoch im Kurs standen und dass man damit Gewinn machen konnte, wenn man sie zum Alteisenhändler brachte.
Einige Buben aus meinem direkten Umfeld, die fast doppelt so alt waren wie ich, ersannen einen Plan, wie sie den Mann in der Baracke hinters Licht führen könnten. Sie verkauften ihm zum Schein gegen einen geringen Betrag irgendwo zusammen geklaubtes Alteisen. Bei dieser Gelegenheit spionierten sie die Lagerung von Messing und Kupfer aus. In der Dämmerung krochen sie auf dem Bauch von der Hinterseite aus durch den Zaun in das unter freiem Himmel befindliche Lager. Helfer mussten das Drahtgeflecht an der Unterseite in die Höhe halten. Rechts und links vom Tatort standen einige Schmiere. Das Diebsgut wurde, damit es nicht auffiel, bei einem anderen Händler gegen Bares getauscht. Einige besaßen sogar die Frechheit, dem Händler seine eigene Ware ein zweites Mal anzudrehen.
Von solchen Aktionen erfuhr ich durch meine Mitschüler bis ins Detail alles.


Freitag, 5. November 2021

Aus den Jahren 1943 bis 1947. Teil 9

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Mein erster Wickel mit der Religion

Das Haus Steyr, Bahnhofstraße 14, in dem meine Großeltern wohnten, gehörte einem Fleischhauer, der mit seiner Frau als Pensionist ebendort wohnte und Fischlmayr hieß.
Mein Großvater sagte beim Grüßen, als überzeugter Sozialdemokrat, niemals „Grüß Gott“, sondern immer „Guten Tag“. Trotzdem trichterte er mir ein, den Herrn Fischlmayr mit „Grüß Gott Hausherr“ und sie, die Frau Fischlmayr, mit „Grüß Gott Hausfrau“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auch mehrmals am Tag, zu grüßen. Ich tat das auch, wie mir geheißen und aufgetragen, bis das Verhängnis seinen Lauf nahm.
Im Rahmen der Vorbereitungen für die Erstkommunion in der zweiten Klasse lernten wir auch die zehn Gebote auswendig. Für die meisten brachte ich das nötige kindgemäße Verständnis auf, nur bei dem, in dem es hieß „Du sollst nicht begehren Deines nächsten Hausfrau“ schwindelte sich der Katechet in der Schule über die Runden, indem er sagte, dass wir dieses Gebot erst verstehen würden, wenn wir etwas größer werden.
Mir als Wiffzack war diese Begründung zu wenig, deshalb fragte ich daheim bei meinem Großvater nach, warum ich die Frau Fischlmayr, unsere Hausfrau, nicht begehren dürfe. Zum besseren Verständnis muss ich hinzufügen, dass die Frau Fischlmayr zu jener Zeit bereits über achtzig Jahre alt war und bekleidet mit Kopftuch und einem langen Kittel gelegentlich zusammen mit ihrem Mann auf einer Bank bei Sonnenschein im Hinterhof saß. Meine Frage, „Opa, warum darf ich die Frau Fischlmayr nicht begehren“, versetzte ihn zunächst in Erstaunen. Er stellte die Gegenfrage, warum ich das wissen wolle: „Weil es in den zehn Geboten steht“, antwortete ich. „So, so“, sagte der Großvater. -

Nach einer kurzen Nachdenkphase zog er sich mit der gleichen Argumentation wie der Religionslehrer aus der Affäre, indem er meinte: „Dafür bist du noch zu klein. Es betrifft Dich nicht, das ist etwas für die Erwachsenen“. „Tu aber, wie ich es Dir aufgetragen habe, die Hausfrau weiter schön grüßen“.

Wen wundert es, dass ich das Geheimnis der nicht zu begehrenden Hausfrau auch noch lange nach deren Tod in mir herumtrug und es noch Jahre dauerte, bis ich seinen Sinn verstand.
Wen wundert es weiter, wenn ein im Kindesalter gesäter Zweifel an der Religion eine nachhaltige Wirkung erzeugt?
Übrigens: Die katholische Kirche hat irgendwann das „Haus“ vor der „Frau“ im Text gestrichen.
Ich maße mir nicht an, der Auslöser dieser Veränderung gewesen zu sein!

Die Ausspeisung

Zu bestimmten Zeiten fuhren die Amerikaner mit ihrer Feldküche, die wir wie die Erwachsenen Gulaschkanone nannten, vor das Schulhaus und begannen mit der Verteilung einer Suppe. Diese roch fantastisch und hatte immer einen guten Geschmack. Wir tranken sie, jeder aus seinem Blechnapf erst in der Klasse, denn die Frau Bartel legte Wert auf Ordnung und Disziplin. Fand einer ein Stückchen Fleisch im Suppenbrei, tat er dies lautstark kund, wurde aber zurecht gewiesen.
Einmal verschlug es uns die Sprache, denn der Soldat, der die Suppe mit einer Schürze und einer weißen hohen Kochhaube bekleidet austeilte, hatte eine schwarze Hautfarbe. Die vorne Stehenden trauten sich anfangs nicht in seine Nähe. Er war groß gewachsen und hatte Zähne wie Schnee im Sonnenlicht. Er zeigte sie fortwährend und sagte zu jedem Knirps: „Komm her!“
Am nächsten Tag verrichtete ein anderer Amerikaner den Dienst. Wir waren zwar enttäuscht, freuten uns aber jedes Mal, wenn der freundliche Schwarze wieder bei der Verteilung da war und uns mit seinem breiten Grinsen anlächelte.
Bisher kannten wir Dunkelhäutige nur von Erzählungen und der Geschichte von den „Zehn kleinen Negerlein“. Das Auftreten einer Person mit schwarzer Hautfarbe war damals in Steyr eine echte Sensation.

Die Care Aktion

Zu Weihnachten 1947 erhielt jede Klasse ein Paket, in dem verschiedene Geschenke enthalten waren. Sie stammten von der Care Hilfsaktion der Amerikaner.
Die Frau Bartel klebte auf jeden Gegenstand des Inhalts mit Mehlpapp einen kleinen Zettel und schrieb eine Nummer darauf. Bei der Verlosung erhielt ich eine quadratische olivgrüne Dose aus Metall von etwa 20 cm Seitenlänge und drei cm Höhe, die, wie sich daheim herausstellte, süße Trockenfrüchte enthielt. Dazu kam ein kleines Päckchen in der Größe einer Zündholzschachtel. Neugierig öffnet ich dieses schon in der Schule und bemerkte, dass es ein weißes Pulver enthielt, das, wenn man den feuchten Finger hinein steckte, nach Pfefferminz schmeckte. Die Frau Bartel erklärte mir, dass es sich bei dem Geschenk um ein Zahnputzpulver handle. Verwendet habe ich es nie, denn Zähne putzen war damals nicht gang und gäbe.