Freitag, 12. August 2022

Der geheimnisvolle Sechzehnender.

Im Bregenzer/Vorarlberger Tagblatt vom 12. Mai 1939 konnte man folgenden Artikel lesen.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst. 


Vor vielen Jahren geschah es, dass der Fürst eines deutschen Kleinstaates auf einer Besichtigungsreise durch sein Ländchen an einem Försterhaus vorüberkam, unter dessen Dach am hölzernen Giebel ein Hirschgeweih angebracht war. Der Fürst ließ seinen Wagen halten und stieg aus.
Die Herren seines Gefolges lächelten verständnisinnig. Natürlich, dieses Geweih erschien Seiner Durchlaucht wieder einmal reizvoller als Vorträge und Regierungsverhandlungen. Aber jeder musste zugeben: ein solches Prachtstück von einem Geweih gab es selbst in der fürstlichen Sammlung nicht. Es war das Geweih eines Sechzehnenders, aber von ungeheuren Ausmaßen und von sehr schönen Formen. Man hätte glauben können, ein Hirsch aus grauer Vorzeit, wo es noch Auerochsen und ähnliche Riesentiere gab, habe es getragen.
Der Revierförster Jentzsch schmunzelte, als der Fürst ihn nach der Herkunft des rätselhaften Riesengeweihs befragte. „Mein Vater hat den Hirsch vor zwanzig Jahren geschossen, Durchlaucht!" sagte er nicht ohne Stolz. „Viele Fremde, die in die Gegend kommen, wandern hierher, um ein Glas Milch zu trinken und das Geweih zu sehen. Mein Vater erzählte, dass er den Hirsch drüben im Grenzwald traf. Es war ein Geselle von fast zwei Meter Höhe. Mein Vater gab ihm einen Blattschuss aber der Riese hielt sich noch aufrecht und stürzte mit gesenktem Geweih auf ihn los. Erst ein zweiter Schuss warf ihn nieder..."

„Wirklich, es ist die größte Sehenswürdigkeit in meinem Lande!" sagte der Fürst. „Hören Sie, lieber Jentzsch, ich muss dieses Geweih haben! Ich kaufe es Ihnen ab!" „Durchlaucht mögen mir gnädigst verzeihen, aber ich verkaufe es nicht. Ich habe es meinem Vater versprechen müssen...". "Ich zahle Ihnen dreißig Taler!" Der Förster schüttelte mannhaft den Kopf. „Fünfzig!" rief der Fürst. „Nicht für tausend, Durchlaucht!" Der Fürst stieg unwillig in den Wagen und fuhr davon. Aber das rätselhafte Riesengeweih ließ ihm fortan keine Ruhe. Als auch der mit neuen Verhandlungen vom Hof beauftragte Forstmeister von dem störrischen Jentzsch abgewiesen wurde, beschloss der Fürst in einem geheimen Rat mit vertrauten Beamten, das Geweih durch einen listigen Handstreich in seinen Besitz zu bringen. In aller Heimlichkeit zeichnete der Kammerherr van Prutzewitz das Geweih ab und brachte es einem alten Drechsler, der sich durch seine kunstvollen Schnitzereien einen Namen in der Residenz gemacht hatte. Dieser Mann wurde beauftragt, eine hölzerne Imitation des Geweihs anzufertigen. Die Arbeit gelang ihm überaus gut. Von drei Meter Entfernung aus sah das Holzgeweih genau so aus wie das echte am Försterhaus. Der Drechsler beteuerte, niemand etwas von dieser Arbeit zu erzählen, und empfing 30 Taler.
In einer dunklen Nacht, als Sturmgeheul und prasselnder Regen jedes andere Geräusch erstickten, kletterten drei kühne Männer auf einer Leiter zum Giebel des einsamen Försterhauses empor, nahmen das Geweih ab und ersetzten es durch die wohlgelungene Imitation. Unbehelligt kamen sie mit der Beute in die Residenz zurück, wo der Kammerherr das Geweih in Empfang nahm und ein paar Silberstücke in ihre Hände drückte. Am folgenden Tag ließ sich Herr von Prutzewitz bei dem Fürsten melden. „Nun, lieber Baron", rief der Fürst und schob achtlos sämtliche Staatsdokumente beiseite, „haben Sie den Riesenhirsch zur Strecke gebracht?" Der Kammerherr senkte verlegen den Blick: „Durchlaucht, leider ist... äh, ich meine..." „Also nicht?" fragte der Fürst ärgerlich. „Doch, doch, das Geweih haben wir..." „Na also! Glänzend, lieber Prutzewitz! Haben Sie es mitgebracht?" Der Kammerherr raffte sich zusammen. „Durchlaucht, wir haben das Geweih zwar erbeutet, aber— es ist auch aus Holz." „Aus Holz?". „Jawohl. Eine täuschende Imitation. Wir haben es in der Dunkelheit nicht gleich bemerkt..."

Der Revierförster Jentzsch, der natürlich nichts von dem Umtausch der Geweihimitation ahnte, fuhr fort, den Leuten die von seinem Vater erfundene Hirschgeschichte zu erzählen, und erwarb im Laufe der Jahre ein ansehnliches Vermögen durch den Milchverkauf an neugierige Fremde. Und nur der alte Drechslermeister in der Residenz durchschaute die tieferen Zusammenhänge der seltsamen Affäre und lachte sich ins Fäustchen. Die beiden hölzernen Riesengeweihe hatten ihm sechzig Taler eingebracht; denn das erste stammte auch aus seiner Werkstatt. Der alte Förster Jentzsch hatte es vor zwanzig Jahren bei ihm bestellt...

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