Freitag, 28. Mai 2021

Der Lugwertl

Dass der bedeutende Oberösterreichische Dichter Adalbert Stifter anfangs in seinem Heimatdorf gar nicht anerkannt wurde, darüber schrieb die Oberdonau-Zeitung am      28. März 1943.

Es war an einem Augustabend des Jahres 1845. Vor der Schenke des Dörfchens Vorderstift bei Oberplan im Böhmerwald unterhielt sich eine kleine Gesellschaft bejahrter Männer über die Ereignisse der letzten Tage und Wochen. An einem Tischchen saß unbeachtet und allein ein Herr aus Wien, den die meisten aber von Jugend auf kannten. Die Leute sprachen über die erhoffte Herabsetzung der Steuern, zumal ein fürchterliches Hagelwetter die ganze Gegend verheert hatte, und zogen die Entsendung einer Abordnung von Bauern nach Wien in Erwägung. Aber ein pensionierter Feldwebel aus Oberplan warnte vor einer solchen „Disziplinlosigkeit“. Da mischte sich der Herr ein und meinte es sei nicht so schlimm mit der Unnahbarkeit der Herren in Wien. Man glaube nicht, dass an höherer Stelle das freimütige Wort eines schlichten Mannes verübelt würde. Er selber wurde von der Fürstin Schwarzenberg und vom Fürsten Metternich wiederholt aufgefordert, sich offen über die Verhältnisse in seiner Heimat zu äußern.
Kaum war der Herr gegangen, trat ein Fischerweib, das alles mit angehört hatte, auf die Männer zu und überschüttete den Abwesenden mit Spott und Hohn. „Habt ihr ihn gehört", sagte sie gehässig, „den Leinwandschmierer und Farbenklexer? Den verbummelten Studenten? Bei den Schwarzenbergs und sogar beim Fürsten Metternich geht er ein und aus, hahaha, es ist zum Lachen. Er ist und bleibt der Lugwertl, wie er es immer war!"
Die meisten Mannsleute lachten, aber der weißhaarige Schulmeister, der gerade gekommen war und die üble Rede vernommen hatte, sprach ernst: „Der Lugwertl, wenn Ihr ihn so nennen wollt, hat uns alle hinters Licht geführt. Man hat mich kürzlich nach Wien geschickt und wer beschreibt mein Erstaunen, als ich in einer großen Buchhandlung sein Bildnis erblickte, mitten unter Büchern, die er alle geschrieben hatte. Und als ich weiterging, sah ich in jeder Buchhandlung das gleiche Bild. Da kam ich aus dem Staunen nicht heraus! Also ist aus dem Maler ein berühmter Dichter geworden und ich bedauere nur, dass ich hier her nicht früher gekommen bin.
Ich hätte dem „Lugwertl“ in aufrichtigem Dank die Hände gedrückt. Denn er hat unserer Heimat die allergrößte Ehre gemacht, unser Dichter — Adalbert Stifter!"

Adalbert Stifter

Stifter Geburtshaus in Oberplan 

Gemälde von Adalbert Stifter

Gemälde von Adalbert Stifter




Stifter Denkmal in Linz

Stifter Denkmal in Wien


Freitag, 21. Mai 2021

„Fuchseisen im Wald“

Karl Heinrich Waggerl ist bekannt für seine wunderschönen Adventgeschichten. In der Oberdonau-Zeitung vom 30. Jänner 1944 schrieb er mit der Erzählung  „Fuchseisen im Wald“ eine gänzlich andere, sehr spannende Geschichte. Der Artikel wurde gekürzt und angepasst.

"Das Haus liegt hoch im Gebirge, vom Wald umklammert, vom Eis der Berge überschattet. Simon ist schon seit Stunden unterwegs, den Berg hinauf. So viel hat er aber auch noch nie zu tragen gehabt. Er wandert wie ein Turm, wie ein schwankendes Gebäude dahin — das merkwürdigste aber ist, dass eine Kuh vor ihm hergeht. Auf halbem Wege findet Simon eine trockene Blöße im Wald, dort will er die Nacht über bleiben. Die Kuh ist schon sehr abgetrieben, sie frißt ein wenig von dem fetten Gras, aber dann legt sie sich hin. Bald schläft auch der Mann. Gegen Morgen erwacht Simon. Ein Stein rollt unten auf dem Weg. Er geht unter die Bäume, vielleicht hat die Kuh sich losgerissen. Aber die Kuh war das nicht, sie liegt im Moos und schläft. Simon bleibt stehen und horcht, alles ist still. Im grauenden Morgen geht Simon weiter und zugleich mit der Sonne ist er bei seinem Haus.

Die Frau ist vergnügt. Es war einsam da heroben in diesen drei Tagen, darum ist sie wohl jetzt so guter Dinge. Simon sitzt in Hemdärmeln hinter dem Tisch, es ist warm und hell in der Stube. Da liegt etwas auf dem Boden. Simon hebt es auf. „Was hast du?“, fragt die Frau schnell. „Nichts. Einen Schuhnagel. Einen rundköpfigen Nagel, wie man sie am leichteren Schuhwerk trägt, wie es der Müller trägt.“

Am folgenden Tag nimmt Simon Pulver und Zündschnur mit sich, er will die alten Wurzelstöcke aus dem Boden sprengen. Das währt lange, der Mann bohrt ein Loch schräg in den Stumpf und schüttet Pulver hinein. Dann steckt er ein Stück von der Zündschnur in die Sprengkapsel, drückt sie zwischen den Zähnen ein wenig zusammen und wenn er alles richtig in das Bohrloch geschoben hat, verstopft er die Öffnung und zündet an. Er geht langsam weg, ein kleines Stück in den Wald, dort stellt er sich hinter einen Baum. Feuer fährt aus dem Stock, Rauch und Erde wirbeln in der Luft. Simon findet eine flache Mulde, es liegen Holzsplitter herum, und Wurzeln ringeln sich wie Schlangen aus der Erde. Er gräbt sie heraus und ebnet den Platz.

Ein paar Tage später steht Simon im alten Bachbett. Er will es mit Steinen ausfüllen. Da sieht er unten einen Mann aus dem Wald treten. Es kommt selten ein Gast da herauf in die Einöde, aber es ist der Müller. Simon geht ihm nicht entgegen. Er gräbt bis zum Abend weiter, dann endlich ruft ihn die Frau. Es Ist niemand in der Stube, aber warum hat Simon den Müller nicht gesehen, als er wegging? Simon setzt sich an den Tisch — liegt etwa wieder ein Schuhnagel auf dem Fußboden? Er tritt in die Schlafkammer, dann geht er rund um das Haus, er steigt auf den Heuboden und auch noch ein Stück gegen den Wald hinauf — seht ihr wohl, da läuft eine frische Spur im Gras.

Am nächsten Tag geht Simon hinunter ins Dorf. Er braucht etwas. Eine Fuchsfalle. Eine starke, große Falle, die man fest im Boden verankern kann — Füchse sind zäh in der Einöde. Simon versucht jede der Reihe nach, spannt sie und lässt die Bügel an einem Stück Holz zusammenschlagen. Die am schwersten ist und am engsten schließt, die nimmt er. Als der erste Schnee fällt, fährt Simon auf seinem Schlitten Holz ins Dorf. Und als er wieder heimkommt, sieht er, da läuft wieder eine Spur, diesmal durch den Schnee, in den Wald hinein!

Die Tage gehen hin, Wind, Nebel und schneidender Frost, es ist ein harter Winter. Hasenspuren laufen über die Halde, Füchse bellen in der Nacht vor dem Haus. Simon wandert über den gefrorenen Schnee, er geht und wandert über sein Land, finster und einsam, eine Last liegt auf seinen Schultern. Schlimm ist, dass der Winter im Gebirge so lange währt. Schlimm ist auch, dass Simon keine rechte Arbeit hat. Er schiebt eine Axt unter den Rock und geht in den Wald, um Bäume anzuschlagen für das kommende Frühjahr. Aber er geht nicht weit, oben auf der Halde kehrt er zurück und plötzlich läuft er auf das Haus zu und stößt die Tür auf. Die Frau steht in der Stube, sie wäscht ihre Milcheimer. „Ist Jemand dagewesen?“ „Niemand, nein.“ Simon geht wieder. Er geht mit einem Sack und einer Schaufel auf der Schulter fort, ein Stück hinter dem Haus in die Halde hinauf, bis er auf eine alte Spur trifft, die vom Stall weg in den Wald führt. Er geht dieser Spur nach, sie ist hart und trägt ihn mit seiner Last. Jetzt schlüpft er unter die Fichten, sieht sich um und findet wieder den fremden Tritt im Schnee zwischen den Stämmen. Er geht weiter und weiter, dann wendet sich die Spur und läuft gegen den Bach hinunter. Hier bleibt Simon stehen und wirft den Sack auf den Boden. Er hat einen bequemen Weg durch den Wald gefunden, wenn er da graben will. Der Mann schaufelt den Schnee weg und fängt an, die gefrorene Erde aufzubrechen. Er schindet sich und schnauft, denn der Boden ist mit Wurzeln durchflochten und hart wie ein Fels. Er will die Fuchsfalle aufstellen. Simon gräbt und schaufelt, aber wenn er das Eisen so tief in die Erde versenkt, wird der Mann nicht viel Glück damit haben. Das müsste ein seltsamer Fuchs sein, der so dumm wäre, sich da mitten in diese Grube zu setzen. Es gibt wenig Leute, die es verstehen, ein Schlageisen gut aufzurichten, Simon versteht es jedenfalls nicht. Er arbeitet lange Zeit, es dämmert schon, immer noch gräbt er ein wenig, schiebt Steine unter die Falle, spannt eine Kette straffer an und legt neues Reisig über die Grube. Dann ist der Mann fertig. Er nickt, nimmt seinen Sack, eine Schaufel und geht.

Alles ist gut und richtig gemacht, aber es wird doch kein Fuchs in diese Falle gehen, denn Simon hat das Wichtigste vergessen: Er hat keinen Köder auf das Eisen gelegt . . . Schnee steht am Himmel, das ist gut, er wird das Eisen zudecken. Aber die Spur wird er nicht zudecken, die Spur ist alt und tief gefroren. In der Dämmerung kommt Simon auf die Halde zurück, er geht oben am Rand des Waldes entlang und ein Stück in das Holz hinein. Dort ist eine ebene Stelle, ein trockener Fleck unter dem Felsen. Simon hat Äste abgehauen und sich einen Platz zum Sitzen eingerichtet. Ja, er ist wohl schon so trübsinnig und verdrossen, dass er sich im Wald verkriecht wie ein Tier. Einen Abend um den anderen sitzt er dort, krumm ist sein Rücken, schwer ist sein Herz . . . Jetzt steigt der Mond über dem Walde auf, es wird hell zwischen den Stämmen, der Schnee ist mit seltsamen Schatten gezeichnet. Simon richtet sich auf. Man hört etwas unten im Wald, einen kurzen Laut, einen Schlag wie in weiches Holz. Und dann schreit jemand. . . Es ist ein hoher, furchtbarer Schrei, der sofort erstickt, wieder kommt, sich lange hinzieht und stirbt. Ja, das ist ein Mensch, ein Mann, der so schreit. Simon steht auf. Oh, er hört die Stimme, die aus dieser schwarzen Grube kommt sie die er gegraben und er kennt diese Stimme, er kennt sie gut. Jetzt löst sich Simon aus dem Schatten — jetzt geht er wohl hin und reißt das Eisen auseinander? Das hätte er längst tun müssen; trägt er kein Herz im Leibe? Nein, Simon geht nicht hin. Schritt für Schritt geht er langsam fort aus dem Wald.

Die Frau ist noch wach. „Wo warst du so lange?“, sagt sie. Simon schaut sie an. „Schweig“, sagt er, „geh schlafen.“ Er setzt sich auf die Bank und legt seine Arme weit über den Tisch. So sitzt er lange da, sein Gesicht ist fahl, Schweiß glänzt auf seinen Schläfen. Nach einer Weile steht er auf, öffnet die Tür und horcht: Nichts, Stille, weißes Mondlicht über der Halde. Er geht in die Schlafkammer. „Frau“, sagt er, „höre, Frau wo hast du dein Gebetbuch?“ „In der Stube, ja, auf dem Brett, was willst du damit?“ „Höre, Frau, du sagst, es steht alles darin, alles, was ein Mensch braucht in seiner Not? Auch in der Sterbestunde, sagst du? Wenn ein Mensch stirbt?“ „Ja, vielleicht auch das. Aber, mein Gott, was ist es mit dir?“ „Bring mir das Buch, Frau!“ Im Morgengrauen fährt die Frau aus dem Schlaf. Man hört etwas vor der Tür, es kratzt jemand an der Wand, sind die Füchse schon so kühn geworden? Sie steht auf und geht hinaus — schreit wie von Sinnen. Der Müller liegt vor der Tür. Sie versucht, den schweren Mann hereinzuziehen, er richtet sich ein wenig auf und kriecht über die Schwelle. Sein rechtes Bein ist furchtbar angeschwollen. Simon kommt aus der Schlafkammer, dort lehnt er sich an die Tür und schaut zu. Die Frau zerschneidet eben das Stiefelleder. Er betrachtet den Müller, diesen Wurm, der da auf dem Boden liegt und sich windet, lange betrachtet er ihn. Er ist die ganze Nacht wach geblieben, Stunde um Stunde, er hat in dem Buch gelesen, unzählige Male las er dieses „Erbarme dich unser“. Sein Hass ist welk geworden — wochenlang wuchs er, fraß das Hirn des Mannes, fraß das Herz aus, jetzt ist er satt. Leer ist Simon, ein Stein liegt auf seiner Brust. Der Müller wendet den Kopf und sieht ihn an, da geht Simon hin und hebt ihn vom Boden auf. Ja, er trägt den Müller in die Kammer und legt ihn auf das Bett. „Simon“ sagt die Frau und weint laut, „verzeihe mir, Simon, denke nicht schlecht.“ „Laß es gut sein“, sagt Simon, „ich trage dir nichts nach. Geh hinein zu ihm!" Der Müller stirbt nicht Er wird auch nicht sterben. Er trinkt heiße Milch, eine Weile jammert er noch vor sich hin, aber dann schläft er ein.

Gegen Abend legt Simon Bretter auf seinen Schlitten, Stroh und Decken. Er trägt den Müller heraus und packt ihn warm in die Streu, dann bindet er ihn fest und zieht davon mit seiner seltsamen Last, hinunter ins Dorf".



Freitag, 14. Mai 2021

Wenn Herr Biedermann auf Reisen ging.



In Linz erschien 1843 „für seine besonderen Freunde und Verwandten als Andenken“ ein kleines Druckwerk, betitelt: „Reise des Augustin Dersch, Gastwirt zu Mauthausen. Angefangen am 5. Juli beendet am 12. September 1841.“ Das kleine Büchlein gibt uns bemerkenswerte Einblicke in die europäischen Verkehrsverhältnisse von 1840. Dersch, der die ganze Zeit über tagebuchartige Aufzeichnungen führte, reiste in Begleitung seines sprachkundigen Freundes Wachtberger aus Tulln. Wir wollen nun einen kleinen Blick in die große Welt tun, die unser Mauthausner Biedermeier damals staunend durchmaß.
Dabei sei einiges über die Reiseverhältnisse jener Zeit erklärend gesagt.
Die Oberdonau-Zeitung vom 12.9.1943 berichtete darüber. Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

„Am 5. Juli 1841 um 4 Uhr früh fuhren wir von Mauthausen zu dem Eisenbahnstationsplatze Lest und von da nach Budweis, wo wir abends eingetroffen sind. Bekanntlich waren es 1825 bis 1832 Ritter von Gerstner und sein Ingenieur Ritter von Schönerer gewesen, die den ersten aller Schienenstränge auf dem europäischen Festland, nämlich die für Pferdezug bestimmte Eisenbahn Gmunden—Linz—Lest—Budweis erbauten. Erst 1872 wurde die Strecke auf Dampfbetrieb umgestaltet. Lest bei Kefermarkt, wo das große Bahnhofsgebäude heute noch steht (1943), war — ebenso wie Kerschbaum — eine Pferdewechselstelle und daher verkehrsmäßig weit bedeutsamer als etwa die Stadt Freistadt, an der die Strecke wegen der Geländeverhältnisse in beträchtlicher Entfernung vorbeiführte. Da der Schienenstrang von Linz — Urfahr— Magdalena — Gallneukirchen — Neumarkt nach Lest verlief, also Mauthausen nicht berührte, dürfen wir annehmen, dass unsere Reisenden mit einem Pferdefuhrwerk auf der uralten Hochstraße und weiter über Pregarten nach Lest reisten und erst dann in die von Pferden gezogene Eisenbahn umstiegen. Uber Summerau — Kerschbaum — Wullowitz gings dann in einer „Geschwindigkeit“ von etwa 10 Stundenkilometern nach Budweis. Von da reiste man tags darauf über Prag — Karlsbad — Teplitz — Kulm (wo die Schlachtfelder von 1813 besichtigt wurden) nach Teschen weiter, zumeist im Postwagen.

Es ist da einiges über diese Reiseart etwa 1840 zu sagen: Wollte man nicht auf Schusters Rappen die Straßen entlang ziehen — eine Angelegenheit, die übrigens mit Recht weit höher in Achtung stand, als heute — und hatte man auch kein wirkliches Reitpferd oder wollte sich die Schererei ersparen allabendlich nicht bloß für sich, sondern auch für sein Pferd Unterstand und Kost und Wartung zu suchen, so blieb dem Reisenden eben nichts, als sich dem pferdegezogenen Wagen anzuvertrauen. Man konnte, je nachdem es der Geldbeutel erlaubte, mit eigenen oder bloß gemieteten Pferden oder gleich im öffentlichen Postwagen reisen. Dort hatte man den Vorteil, sein eigener Herr und an keine Fahrpläne gebunden zu sein; dafür warteten auf den Reisenden unendliche andere Scherereien. Bei zahllosen kleinstaatlichen  Wegschranken hieß es anhalten und das „woher“ und  „wohin“ des bärbeißigen Zöllners war genau so ermüdend und verärgernd wie die Unverschämtheit der Kutscher, wenn man „gemietet“ fahren wollte.
Da man hingegen - beim eigenen Fahrzeug und eigenen Pferden alles vom Striegel bis zum Ersatzrad, vom Koffer bis zum Futtersack, mitführen musste, war das wieder umständlich und teuer.
Das fiel nun freilich alles beim Reisen im Postwagen fort, aber diese Fahrt hatte wieder andere Schrecken: wie Schafe gepfercht saßen alt und jung, dick und dünn beiderlei Geschlechts stunden-, ja tagelang in einem ständig stoßenden und schaukelnden Wagen, höchstens einmal aufgelockert wenn ein Rad brach und die ganze Fuhre umschlug oder doch wenigstens einer der schweren eisenbeschlagenen Koffer herunterfiel. Das waren die Kehrseiten jener romantischen Reisen in der Postkutsche. Man scheute Regen oder Schnee nicht minder als Sonne oder Staub und so ließ man meist trotz der unerträglichen Luft das Dach geschlossen. Die Geschwindigkeit einer „Ordinari-Post“ oder auch einer „Diligence" war die fabelhafte von etwa 1 Meile (= 7.42 km) je Stunde und nur mit der „Extrapost“ kam man schneller weiter. Bei jenen kostete z. B. in Österreich 1831 ein Wagenplatz für rund 15 km etwa 30 kr. (Kronen) zuzüglich 3 kr. Trinkgeld, bei dieser für den Wagen durchschnittlich 20 kr. und je Pferd . 56 kr. auf dieselbe Strecke, zuzüglich 6 kr. „Schmiergeld“. Diese Zahlung hatte sich als eine Nebeneinnahme der Postmeister trotz aller Verbote hartnäckig erhalten. Gedacht war sie für unterwegs nötiges Achsen- und Räderschmieren, lief aber meist auf eine aufgelegte Wurzerei der Reisenden hinaus. Wenn man — was bei der „Extrapost“ die Regel — den eignen Wagen beistellte und nur die Postpferde mietete, tat man gleich gut eigene Wagenschmiere mitzunehmen. Wehe aber, wenn man vollends am Trinkgeld für den Postknecht sparte und etwa nur die in Österreich „je Post“ vorgeschriebenen 12 kr. zahlte. Sich daran zu halten, bedeutete einen förmlichen Verruf und in Kürze war man auf allen Landstraßen und in allen Poststationen wie das saure Bier verschrieen. Bedenkt man dann noch die Schererei um das Gepäck in den Rast- und Übernachtungsstellen, wo Verwechslungen und Diebereien an der Tagesordnung waren, bedenkt man weiter, dass man dann noch oft in elenden, verschmutzten, überfüllten Gaststätten stundenlang auf den Pferdewechsel zu warten oder gar zu übernachten hatte, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von den Genüssen einer Postwagenreise um 1830/40.
Weiter ging aber jetzt die Fahrt unserer Reisenden mit dem Dampfboot nach Dresden, „mit der Locomotive“ nach Leipzig (4 Stunden Fahrt), und nach Besichtigung aller Sehenswürdigkeiten, besonders der Völkerschlacht- erinnerungen, in drei Stunden Dampfbahnfahrt nach Magdeburg. Von hier wieder gings mit dem Dampfer nach Hamburg und ebenso weiter über Cuxhafen in den Kanal. „Kaum war unser Schiff aus der Elbe hinaus, als schon auf fürchterliche Weise der Wind zu stürmen und die See sich zu erheben anfing, so dass uns, die wir so etwas noch nie gesehen hatten, herzlich bange wurde, Wir meinten jede Welle werde uns in den Abgrund des Meeres begraben.“
Am dritten Tag endlich lief man in die Themsemündung ein. Die vierstockhohen Kriegsschiffe, darunter eines mit 80 Kanonen, das 80.0Q0 Pfund Sterling gekostet hatte. Der Reichtum der Innenstadt Londons und die Pracht der neuen Kronjuwelen (im Wert von 5 Mill. Pfund Sterling) beeindruckten unseren biederen Mauthausner ebenso, wie ihn die unbeschreibliche Armut der Arbeiterviertel entsetzte. Besonders im Nordwesten ist der Sitz des hilflosen Jammers und des gräßlichsten Elends. Hier wohnen in langen, engen, dunklen Gäßchen, in Häuserchen mit zerbrochenen Fenstern, in die nie ein Sonnenstrahl dringt, jene Armen, welche an den notwendigsten Lebensbedürfnissen Mangel leiden. Am 4. August reisten unsere Landsleute nach Frankreich weiter, und kamen über Le Havre, Rouen nach Paris; von da reisten sie über Mühlhausen — Basel — Zürich —Bern — Straßburg Köln — Mannheim — Heidelberg — Mainz — Frankfurt — Nürnberg —Augsburg — München — Regensburg — Passau in ihr geliebtes Mühlviertel zurück. 
„Am 12. September fuhren wir mit dem bayrischen Dampfschiffe nach Linz, da wir aber das Wiener Dampfschiff hier nicht mehr antrafen, kauften wir uns hier eine Waidzille und fuhren darauf von Linz ab und kamen glücklich und wohlbehalten um halb drei Uhr wieder zu Hause an. Meine Reise ist nun beendet, und die Lust, die Welt zu sehen, gedämpft. Ich habe in einem kurzen Zeitraum viel gesehen: Herrliche Kirchen, prachtvolle Palläste, Häfen und Schiffe mit turmhohen Masten, Denkmäler und Gärten und dennoch war doch nichts über die Freude, welche ich bei dem ersten Anblick der lieben Heimat und vollends wieder unter den lieben Meinigen empfand, ein Vergnügen, welches England und Frankreich mit all ihren Herrlichkeiten mir nie verschaffen konnten. „Ich reiste zum Vergnügen und fand mein größtes, bei meiner Rückkunft im geselligen Zirkel der Meinigen:“
So schließt Augustin Dersch sein Reiseerlebnis in echt biedermeierischem Überschwang des Gefühles.                                                                Dr. —ch—


           

Freitag, 7. Mai 2021

Das Leben Mutter Reginas

Am 1.8.1943 erzählte in der Oberdonau-Zeitung Karl Heinrich Waggerl, der berühmte Salzburger Dichter, eine Geschichte aus dem Leben Mutter Reginas.
Sie war einer Bäuerin, Ende des 19. Jhdt, verheiratet und hatte einen erwachsenen Sohn mit Namen Peter.

"Ja, die Mutter! Sie ist ein wenig redselig geworden mit den Jahren, sie liebt es, Geräusch zu machen und einen kleinen Seufzer an alles zu hängen, was sie tut. Ihr Reich, das ist die Küche und der Keller, das ganze Haus, Garten und Stall. Es fehlt ihr an nichts; sie hat Wolle und Flachs, Schmalz und Mehl, Käse und Milch das ganze Jahr. Aber sie ist nicht wie der Vater. Wenn sie nein sagt, so heißt es nicht immer nein. Regina ist tüchtig und klug, daran fehlt nichts, allein sie jammert gern ein wenig, es ist ihr nicht unlieb, wenn der Mann den Berg Wäsche sehen kann, der morgen gewaschen werden soll.

„Wenn ich mir nur etwas ausdenken könnte“, sagt sie, „dass ich das Wasser für den Kessel gleich hier in der Küche hätte — ein Fass vielleicht, ein größeres Schaff auf Rädern. Da muss Peter lachen. Jawohl, er und der Vater sehen sich an und schmunzeln ein bisschen. Am nächsten Tag nagelt Peter eine Rinne zusammen, nun fließt tatsächlich Wasser durch das Fenster in den Kessel. Was aber das Schönste ist, Regina braucht nur an einer Schnur zu ziehen, dann kommt viel oder wenig Wasser aus dieser Rinne, wie sie es gerade nötig hat. „Willst du etwa auch heißes Wasser haben?“ sagt er. „Ach — heißes Wasser?“ „Ja, dann könnte ich vielleicht ein Feuer unter dem Brunnentrog anzünden“, meint Peter sehr ernsthaft, und Regina braucht eine ganze Weile, bis sie merkt, dass er sie nur zum Narren hält mit seinem geheizten Brunnentrog.

So ist es mit der Mutter. Man tut ihr manches zuliebe, auch der Mann zieht geduldig seine Schuhe vor der Türe aus, wenn der Boden gescheuert ist. Aber zuweilen hat man doch auch seinen Spaß mit ihr.
Da fährt sie in das Dorf. Sie fährt allein mit Ross und Wagen, denn die Stute ist so friedlich geworden, dass sie nichts mehr aus der Fassung bringen kann. Der Mann und Peter bleiben daheim, sie stehen auf dem Anger, während die Mutter über die Halde hinunter rasselt. „Gib nur acht“, ruft Peter nach, „wenn du den Fuchs wieder einspannst, der Kopf muss vorne sein!“
Wie sie wieder heimkommt, da hat Peter eine Überraschung für sie bereitet. Er schenkt ihr einen Topf mit einer merkwürdigen Pflanze. Sie sieht nach nichts Besonderem aus, ein paar gekräuselte grüne Blättchen. Aber Regina ist neugierig und gießt den Topf jeden Tag mit den übrigen, bis sie endlich dahinter kommt, dass es ein Rettich ist, ein ganz gewöhnlicher Rettich. Sie kränkt sich zuerst ein wenig, aber dann lacht sie selbst. Das ist so hübsch an ihr, sie nimmt nichts übel. Peter macht es auch wieder gut, die Mutter kann seine geschickten Finger wohl brauchen. Nun bekommt sie eine Garnhaspel (Garnaufwickler), dafür, dass sie den Rettich so schön begossen hat.
Regina besitzt auch einige unvergängliche Kenntnisse aus der Geschichte und Geographie. Sie weiß und erzählt oft, dass Napoleon in einer gewissen Schlacht sein ganzes Königreich für ein Pferd angeboten hat und dass es in der Sahara nur sieben Oasen gibt, sonst lauter Löwen und Kamele.
Peter merkt sich das mit der Zeit, es ist vielleicht wohl ohnehin das Äußerste, was ein Mensch an Kenntnissen in sich aufhäufen kann, jedenfalls ist es genug für ihn, der Weizen wächst deswegen nicht besser.
Mutters Brot ist schwarz, aber es nährt. Nahrhaft und kräftig ist auch sonst alles, was die Frau auf den Tisch bringt. Keine Leckerbissen, keine Kuchen und Pasteten, auch Fleisch gibt es nur an Feiertagen. Regina bäckt einmal Krapfen im tiefen Schmalz, ein anderes mal ist es Mus, zuweilen auch nur eine Käsesuppe und der Mann schneidet selbst noch kleine Brotschnitten hinein, ehe alle drei aus der einen Schüssel essen. Nein, große Künste sind nicht erforderlich. Peter kommt herein und zieht die Luft durch die Nase — Milchnocken! Es waren auch gestern Milchnocken, aber gerade darum ist es wie ein Wunder, wie eine besondere Fügung. Er hat den ganzen Vormittag daran gedacht, ob die Mutter wohl diese Eingebung haben könnte, ein zweites Mal Milchnocken zu kochen.
Peter ist ungeheuer gefräßig, manchmal kaut er Hafer während der Arbeit und der Vater schaut ihn verwundert an, weil es so merkwürdig in seinen Eingeweiden knurrt. Zu heiligen Zeiten wünscht sich Peter einen Brotlaib, den er ganz allein aufessen darf, vom ersten bis zum letzten Stück.
Ja, so leben diese drei Menschen und sie leben zufrieden. Langweilig ist das Leben nicht. Peter unterhält alle mit seiner lustigen, trockenen Art. „Was bekommen wir eigentlich heute?“ sagt er, wenn er die Schüssel ausgeleert hat. So ist Peter ein närrischer Kerl. Aber untertags, da ist es recht still im Haus. Peter, ja, ja. Er ist beim Vater, er arbeitet irgendwo im Wald, auf dem Acker, es sind wohl drei Menschen da, und doch ist die Mutter allein".

                                           Allen Müttern