Freitag, 31. Dezember 2021

Die Fahrt ins Neue Jahr.


In der Oberdonau-Zeitung erzählte am 30.12.1944 Otto Anthes die Geschichte "Die Fahrt ins Neue Jahr". Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.


In dem vergrasten Nebengeleise eines kleinen Bahnhofs stieg der Hahn des Bahnhofsvorstehers mit seiner Lieblingshenne umher und suchte das Gelände nach Freßbarem ab.

„Heute ist Silvester“, sagte er während er pickte. „Was du nicht sagst! Was du nicht sagst!“ gackelte die Henne. Solche Sprüche fügten sich ihrer Stimmlage am besten und entsprachen außerdem ihrem Geistesstand. „Ja“, unterbrach der Hahn mit Nachdruck das Gegackel, „und morgen fängt ein neues Jahr an. Mir ist, als ob wir heute auch etwas Besonderes finden müssten. Schließlich fängt für uns auch ein neues Jahr an.“ „Das ist auch wahr. Das ist auch wahr!“ stimmte die Henne bei.
Darüber kamen sie zu einem Güterwagen, der auf dem Nebengeleise vor einem Schuppen stand. Da eine dünne Spur von Körnern in das Innere wies, so stiegen beide in die Dämmerung hinein. Kaum aber hatten sie ein paar Körner aufgepickt, da kam ein Mann aus dem Schuppen und schlug die Wagentür zu. „Was hab’ ich gesagt! Was hab’ ich gesagt!“ fuhr die Henne auf. „Nun sitzen wir fest.“ „Gesagt hast du gar nichts“, stellte der Hahn mit nachsichtiger Würde fest. „Und ich würde dir auch raten, weiterhin den Schnabel zu halten. Wenn die Körnerspur nicht trügt, muss es für uns hier drinnen allerlei geben.“ Ach aber gar! Ach aber gar! gackerte die Henne gekränkt. Es standen nun allerdings mehrere Säcke im Wagen, die sich sehr hoffnungsvoll anfühlten. Aber soviel sie daran herumhackten, nicht das kleinste Loch vermochten sie hineinzubohren.
„Siehst du“, sagte der Hahn, ,so ist das Leben. Es ist alles da, was das Herz begehrt, aber du kannst nicht ran. Das heißt Weltwirtschaft.“ „Wie du das sagst! Wie du das sagst!“ schüttelte die Henne bewundernd den Kopf.
Im selben Augenblick gab es einen Stoß, ein kurzes Hin und Her und dann setzte sich der Wagen ruckartig und rumpelnd in Bewegung. Die beiden erschraken so sehr, dass sie sich, dicht aneinander gedrängt, stumm bei der Tür nieder hockten.
„Siehst du“, fasste sich der Hahn zuerst wieder, „so ist das Leben. Du steigst ein, ohne dir etwas Böses zu denken und ehe du dichs versiehst, geht die Fahrt los. Du weißt nicht warum, du weißt nicht wohin. Jedenfalls fahren wir mit der Eisenbahn ins neue Jahr." Eine Fahrt im Güterwagen hat etwas ungemein Beruhigendes. Auch unsere Reisenden kamen allmählich in die geruhsame Besinnlichkeit, wo man ins Erzählen gerät.
„Als mein Vater noch das Geschäft versah“, sagte der Hahn „lag einst jeden Morgen ein Huhn tot im Stall. Die Vorsteherin war außer sich und wusste sich das Unheil nicht zu erklären. Bis eine alte, böse Frau sagte: Das tut Ihr Hahn. Solche alten Burschen werden kollerig und statt die Hennen zärtlich ein bisschen zu rupfen, hacken sie ihnen in den Kopf hinein, dass sie sterben. Die Vorsteherin rief: „Ja, das hab’ ich auch schon gesehen — rannte in den Stall, fing den Alten ein, lief in die Küche, Kopf ab und mittags fraßen sie ihn mit Rachegefühlen auf. Am anderen Morgen lag wieder ein Huhn tot im Stall. Da war er’s gar nicht gewesen, sondern sie hatten den Stall mit giftiger Farbe gestrichen. So ist das Leben.“ Unter solchen Gesprächen verging die Zeit.
Mit einem Mal hielt der Zug polternd an und zugleich hörten sie Glockengeläut, ein paar Schüsse und vielfältige Rufe: "Prosit Neujahr!“ „Was ist denn das? Was ist denn das?“ fragte die Henne besorgt. „Neujahr ist!“ schrie der Hahn und schlug mit den Flügeln und krähte: Viel Glück in der Früh! Viel Glück in der Früh!“ Da wurde die Tür geöffnet und die beiden schauten auf einen erleuchteten Bahnsteig und in die vergnügten Gesichter mehrerer Eisenbahner, denn der Bahnvorsteher hatte schon um seine Ausreißer telefoniert. Sie wurden auf den Arm genommen, in eine warme Stube gebracht, bekamen Brot, zerschnittene Wursthaut und schliefen dann glückselig am Ofen ein.
Andern Tags wurden sie in eine Kiste mit Luftlöchern gesteckt und reisten nach Hause zurück. Nachmittags stiegen sie schon wieder in dem vergrasten Nebengeleise herum.“Siehst du“, sagte der Hahn, „so ist das Leben. Diese Nacht sind wir mit Glockengeläute und Butterbrot ins neue Jahr getreten. Heute ist alles wieder so wie vorher. Das ist gut so. Sich besinnen und erinnern, in der Dämmerung feiern wo es am Platz ist und dann wieder seine Pflicht tun, das ist das rechte Leben“.„Das ist auch wahr! Das ist auch wahr! gackerte die Henne und nickte um so emsiger.


Donnerstag, 23. Dezember 2021

Die Ballade vom Kind.

In der "Alpenländischen Rundschau" berichtete am 24.12.1942 Karl Hans Watzinger von einer alte Geschichte, die sich vor vielen Jahren im Steyrtal zugetragen hat.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.


                                    Gemälde: Dr. Helmut Schachner

In meiner Heimat hat sich in den Jahren, als noch die Eisenhämmer an der Enns und Steyr munter auf und nieder gingen und die Hammerherren reiche und mächtige Leute waren, eine Geschichte zugetragen, die ich einmal aus dem Munde eines Bauern gehört habe. Ich habe manches aus ihr vergessen und muss sie deshalb nacherzählen. Auch bin ich kein so trefflicher Erzähler, wie der Bauer einer gewesen ist; er konnte einen stundenlang mit solchen Geschichten unterhalten, man wurde nicht müde, ihm zu lauschen.

Da lebte in diesen Jahren im Steyrtal eine junge Witwe. Ihr Mann, ein reicher Hammerherr und bekannt im Kreise der Eisenhändler und im Lande, war nach dreijähriger glücklicher Ehe gestorben und die Frau trauerte um ihn, wie nur eine Frau um den Geliebten ihres Herzens trauern kann. So blieb sie in der Einsamkeit des großen Herrenhauses und widmete sich ganz den Geschäften. Sie war tüchtig und erwarb sich bald Hochachtung bei den Männern ihres Standes. Mancher versuchte da ihre Hand zu erringen. Doch sie schlug jeden Bewerber aus. Das kam ihr um so bitterer an, als es ihr von jeher das höchste Glück geschienen hatte, ein Kind unter dem Herzen zu tragen. Allein ihr Leib blieb ungesegnet. Und nun war auch die Hoffnung dahin, dass sich ihr heißer Wünsch erfüllen werde.
Oft lag sie in den Nächten wach und es dünkte sie, das Herz brenne über ihrem Leid alle Freuden, deren sie noch teilhaftig war, aus ihrem Leben; da lag sie leer, eine Hülle nur ohne Seele und wusste nicht, was noch beginnen auf dieser Welt. In solcher Trostlosigkeit verlief der Heilige Abend, der dritte schon seit dem Tode des Gatten.
Christine, so hieß die junge Witwe, hatte den Weihnachtswunsch des ältesten Hammermeisters angehört und dem Manne, der dem Hause seit langem treu diente, ihr Geschenk überreicht und nun beschenkte sie die Mägde. Dann ging sie in die Wohnstube und. blieb dort allein. Noch zur vorigen Weihnacht war sie mitten unter dem Gesinde an der Tafel zu ebener Erde gesessen. Diesmal wollte sie in der Hauspostille ihres verstorbenen Mannes lesen. Er war lutherischen Glaubens gewesen, sie jedoch war Katholikin. Viel Streit hatte es deshalb vor ihrer Heirat in den Familien gegeben und auch die Priester beider Kirchen hatten sich eingemischt. Doch die Liebe war größer und nichts konnte die zwei liebenden Menschen voneinander trennen. An diesem Heiligen Abend fand Christine keine Ruhe bei ihrer Erbauung, immerfort musste sie ans Fenster treten und auf den vom vollen Mond beschienenen, schneebedeckten Garten blicken. Das Würzgärtlein an der Mauer lag dicht verschneit, kaum dass man den Zaun sah, der es begrenzte. So kam die Mitternacht. Christine hatte den pelzverbrämten Mantel angelegt und das Gebetbuch an sich genommen, als auch schon Notburg, die junge Magd, die die Gemächer des Stockwerks aufräumte und die Witwe bediente, an die Tür klopfte und sagte, es sei Zeit zur Mette.
So trat die Frau des Hauses auf den Gang und stieg in den Flur hinab. Dort warteten schon die übrigen Mägde. Wie sie durch den langen Flur zur Tür gehen wollte, ertönte die Hausglocke. Wer mochte es sein? „Öffne!" sagte die Frau zu Notburg. Die Magd schloss die Tür auf. Alle sahen neugierig nach der Stelle. Die Nacht brachte es mit sich, dass ihnen, die Herrin ausgenommen, auch ein wenig ängstlich zumute war. Denn wer konnte zu dieser Stunde etwas im Herrenhaus wollen? Nach einer Weile stieß Notburg einen Schrei aus, den aber niemand im Flur deuten konnte, ob er des Erschreckens oder der Freude sei. Christine eilte herbei. Das Gesinde drängte nach. Da hob ihr Notburg wortlos ein Bündel entgegen. Die Frau trug es unter die Lampe und jetzt sahen es alle, es war ein neugeborenes Kind. Diese Entdeckung verschlug ihnen für eine Weile die Rede, sie starrten das Kind an, das wie ein Bild der Zufriedenheit, in seiner Fetzenhülle schlief. Schließlich fragte die Frau: „Hast du nicht gesehen, wer es gebracht hat? Es muss doch im Augenblick des Läutens gewesen sein.“ Aber die Magd verneinte. Christine ließ nun das Kind nicht mehr los und trug es in das Stockwerk. Wie von einem Bann bezaubert, folgten ihr die Mägde. Sie dachten gar nicht, dass es ihnen nicht zustand, in die Herrschaftsräume des Stockwerks einzutreten, denn sie waren dorthin nicht gerufen worden. Doch sie gingen mit der Frau in die Wohnstube, die manche Magd nur vom Hörensagen kannte. Auch die Frau verwies es ihnen nicht. Sie legte das Kind in die Arme Notburgs und verschwand für kurze Zeit aus der Stube. Mit einer Wiege kam sie wieder zurück. Die Mägde staunten nicht etwa, sie wussten, dass die Frau diese Wiege in das Haus mitgebracht hatte, als sie als Herrin eingezogen war. Darin hatten alle Frauen ihres Geschlechts ihre Kinder gewiegt und dann war die Wiege an Christine gekommen. Allein sie war leer geblieben. Jetzt legte sie das Findelkind in sie hinein, stellte die Öllampe auf ein nahes Tischchen und rückte einen Stuhl an die Wiege. Wie sie nun so bei dem schlafenden Kind saß und mit wonnigem Lächeln auf das Kleine herabsah, da vergaßen — so hat es mir der Bauer erzählt — die Mägde den Ort, an dem sie sich befanden; sie vermeinten, dass sie in der Kirche stünden und Maria mit dem Menschenkind vor ihnen säße. Und vielleicht hat Gott ein solches Gleichnis aufgestellt, nur deshalb, dass die Welt glauben lernte, wie viel Göttliches im Menschen verborgen sei.
Diese Geschichte hat sich denn auch durch nahezu zwei Jahrhunderte hin verbreitet. Der Bauer hat mir am Schluss gesagt, dass sie rundum am Heiligen Abend stets von der Hammerfrau Christine redeten, der in dieser Nacht des Wunders ein Kind geschenkt worden sei, ohne dass ein Mann sich ihr zur Zeit genähert hätte.
                                     

Freitag, 17. Dezember 2021

Der Reisepass in der Kehle

Die schwedische Opernsängerin Jenny Lind (geb.1820, gest.1887), die weltweit unglaublich viele Fans hatte, machte einmal auf ihrer Reise nach Wien einen Tag Zwischenaufenthalt in Salzburg. Dort wollten sie ihre Anhänger wenigstens einmal singen hören, obwohl sie kein Konzert gab.
in der Oberdonau-Zeitung vom 5.10.1944 berichtete  Friedrich Gersthofer mit welcher List es gelang die Sängerin dazu doch noch zu bewegen.
 
Als die berühmte Sängerin Jenny Lind auf ihrer letzten Reise nach Wien sich einen Tag in Salzburg aufhielt, um am anderen Morgen von dort die Reise fortzusetzen, hatte sich das Gerücht von ihrer Ankunft sehr schnell in der Stadt verbreitet. Einige Gesangsliebhaber wollten sich um jeden Preis den Genuss verschaffen, die berühmte Sängerin zu hören und beschlossen, da die Künstlerin in Salzburg nicht öffentlich auftrat, zu einer etwas merkwürdigen List.
Drei vornehm gekleidete Herren, mit ernsthaftem Aussehen, begaben sich in das Hotel der Diva, wo sie bis zu ihrem Zimmer vorzudringen vermochten. Der Älteste von ihnen, ein würdig aussehender Mann mit grauem Haar, entschuldigte ihr Erscheinen und bat um die Ausweispapiere. „Zu welchem Zweck?“ fragte die erstaunte Künstlerin. — „Gnädige Frau, wir bedauern aufrichtig, sie belästigen zu müssen", erwiderte der Wortführer, „aber wir haben die Anzeige, dass eine Schwindlerin ihre Ähnlichkeit mit ihnen benutzt, um sich für sie auszugeben und um dabei allerlei Betrügereien zu verüben.“ Frau Lind zeigte ihren Pass, den die Herren genau prüften und für gefälscht erklärten, so dass die Sängerin, die Unannehmlichkeiten mit der Polizei befürchtete, wirklich Angst bekam und hoch und teuer versicherte, sie sei die wirkliche und wahrhaftige Künstlerin Lind. Der alte Herr zuckte die Achseln. „Wohl möglich“, meinte er kühl, „ganz dieselbe Versicherung würde uns aber auch Ihre Doppelgängerin geben. Ich kenne nur ein Mittel, uns zu überzeugen: Singen sie etwas.“ Entrüstet wies die Sängerin diese Zumutung zurück.
„Dann bedauern wir, unsere Zweifel aufrecht erhalten zu müssen“, erklärte der Beamte, indem er Papier aus der Tasche langte und sich anschickte, ein Protokoll aufzunehmen. Die Künstlerin, die durch kontraktliche Verpflichtungen am nächsten Tag in Wien auftreten musste, fürchtete zurückgehalten zu werden und wusste sich daher nicht anders zu helfen, als dem Wunsche der drei Herren zu entsprechen. Sie sang am Klavier einige Lieder, während die Anwesenden atemlos lauschten, und nachdem sie geendet, in einen Beifallsjubel ausbrachen, der durch den aus dem Nebenzimmer dringenden rauschenden Applaus noch verstärkt wurde.
Die berühmte Sängerin erkannte nun, dass sie in eine Falle gegangen war und in der ersten Entrüstung drohte sie, die falschen Beamten zur Anzeige bringen zu wollen. Aber der Enthusiasmus war derartig groß, dass sie sich allmählich besänftigen ließ; die Schelme erflehten und erhielten ihre Verzeihung und entfernten sich, froh, auf diese Weise die berühmteste Sängerin ihrer Zeit gehört zu haben.

Jenny Lind





Freitag, 10. Dezember 2021

Das sonderbare Duell

In der Oberdonau-Zeitung am 23.9.1944 berichtete Fritz Zimmer von einem sonderbaren Duell zwischen dem Deutschen Reichskanzler Bismark (geb.1815, gest.1898) und Prof. Rudolf Virchow (geb. 1821, gest.1902) dem berühmten Arzt, Pathologen, Anthropologen, Prähistoriker und Politiker.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Noch als Bismarck schon der große deutsche Staatsmann war, standen sich er und der berühmte Professor Virchow in politischen Dingen recht feindlich gegenüber. Da sie beide sehr temperamentvolle Naturen waren, kam einmal die Auseinandersetzung zu solcher Schärfe, dass sich der Kanzler beleidigt fühlte und Virchow eine Herausforderung zum Duell überbringen ließ. Virchow war gerade in seinem Laboratorium mit Arbeiten zur Trichinenforschung beschäftigt, als Bismarcks Kartellträger (Sekundanten)
 erschienen. Er empfing sie sehr freundlich und hörte sie an. Dann sagte er: „Gut. Die Wahl der Waffen steht mir zu. Ich werde Ihnen gleich sagen, wie ich mich zu schlagen gedenke. Sehen Sie hier die beiden Mettwürste. Die eine von ihnen ist mit Trichinen gefüllt, die andere Trichinen frei. Herr von Bismarck wird mir die Ehre antun und eine von den beiden Würsten wählen und essen, worauf ich dann selbstverständlich ohne weiteres die andere verzehren werde. Wer die Trichinen bekommt — das ist das Gottesurteil."

Weil es Virchows Ernst war und der Kanzler keine Lust zeigte, darauf einzugehen und einflussreiche Mittelsleute die Beilegung des Konfliktes vermittelten, unterblieb das Wurstduell.

Otto von Bismark


Berliner Kongress, Gemälde von Anton von Werner;
 vorne mittig: Otto von Bismarck

Napoleon III. und Otto von Bismarck nach der Schlacht von Sedan

Rudolf Virchow



Virchow Denkmal in Berlin

Freitag, 3. Dezember 2021

Kindheitserlebnisse zu Ende des 2. Weltkrieges 1943 bis 1947 - Teil 13

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Der Sailer

Er hieß mit Vornamen Herbert und war der Freund von Tante Herta, der Schwester meines Vaters.
Als Zuckergroßhändler bediente er von Steyr aus die Kaufmannschaft des Enns- und Steyrtales mit dem in der Nachkriegszeit begehrten Produkt. Meine Mutter hielt viel von ihm, weil er ihr in der Phase der Umrechnung von Mark wieder auf Schilling anbot, ihre Ersparnisse in seine Firma aufzunehmen, wodurch sich ein Umrechnungskurs von 1:1 ergab und die Mutter nicht die Hälfte ihres Geldes verlor.
Das Zuckermonopol war auf Dauer nicht zu halten, da sich die Kaufmannschaft völlig neu organisierte. Sailer musste Konkurs anmelden und die Firma schließen. Zudem ging seine Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen waren u.a. wegen der Tante in Brüche. Äußerlich merkte man ihm nichts an, er war stets höflich und freundlich, gerade zu mir und meinem Bruder. Auf der Negativbilanz ist zu vermelden, dass er dem Trunke zugetan war. Seinen Stammtisch hatte er in der „Gösser“ in der Steyrer Enge Gasse. Später heirateten er und die Tante.

Auf dem Platz des SK Vorwärts

Gleich nach dem Krieg erfuhr das gegenüber unserer Wohnanlage in der Grillparzerstraße liegende Spielfeld des SK Vorwärts Steyr eine totale Umgestaltung. Der ohnehin geringe Rasenbewuchs war abgetragen worden, sodass der ganze Platz einer Schotterdeponie glich.
Eine Firma kam bei der Wiederherstellung nicht zum Einsatz, nur Männer, alle mit gleicher grauer Adjustierung ausgestattet, besorgten die Arbeiten. Es handelte sich um Häftlinge aus dem Gefangenenhaus Garsten, die jeden Morgen von wenigen Wächtern begleitet, im Marschschritt daher kamen. Auf der Rückseite ihrer Joppen trugen alle ein großes Z und ein großes G (Zuchthaus Garsten).
Am Rande des Platzes legten sie fein säuberlich auf Zwischenräume achtend ihre Habseligkeiten in kleinen Häufchen ab. Die Arbeiten fanden nur bei günstigen Witterungsbedingungen statt. Zu Mittag rasteten einige am Boden sitzend, andere spielten mit einem richtigen Fetzenlaberl Fußball. Als Tore dienten ihnen aufgetürmte Steine. Auch die Wächter saßen beisammen. Obwohl es eine Umzäunung des Platzes mit offenen Türen gab, lief keiner davon. Außenkontakte mit Zurufen und ein Gang zum Zaun, wo öfter Frauen standen, waren nicht erlaubt. Daran hielten sich alle. Nur wir Buben konnten uns innerhalb der Einfriedung frei bewegen.
Sogar der Rufname eines einzigen der Inhaftierten ist in mir hängen geblieben. Er betraf den Kleinsten aus der Truppe, der gleichzeitig der Lustigste von allen war und immer Späße machte. Seine Kameraden riefen ihm mit seinem Spitznamen „Bacherl“.
Bald hatten wir in Erfahrung gebracht, dass es sich bei den Männern um keine Verbrecher im üblichen Sinn handelte, sondern um sogenannte „Politische“, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft und Tätigkeiten bei der NSDAP gerichtlich verurteilt mehrmonatige Haftstrafen abzusitzen hatten. Von den am Zaun stehenden Frauen bekamen wir mitunter kleine Päckchen und dazu genaue Anweisungen, unter welche der abgelegten Habseligkeiten wir sie verstecken sollten. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Zigaretten oder Süßigkeiten. Wir warteten immer, bis kein Wärter in der Nähe war oder gerade keiner herschaute. Wenn alles klappte, bekamen wir dafür ein paar Zuckerl oder einen Kaugummi. Alles in allem betrachtet, ging es bei dieser Art des Strafvollzugs äußerst locker zu. Ich glaube mich erinnern zu können, dass nur ein Wächter ein Gewehr trug, dem wohl nur Symbolkraft zukam. Am Abend marschierte die Kolonne in geordneter Formation wieder nach Garsten zurück.

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Die Kindheitserinnerungen von Herrn Konsulent OSR Peter Grassnigg haben die Leser dieses Blogs mit großem Interesse verfolgt. So manche können sich erst jetzt vorstellen, wie es ihren Eltern und Großeltern in dieser Zeit ergangen ist. Wir danken Herrn Grassnigg sehr herzlich für die Einblicke in seine Kindheit.