Donnerstag, 21. Dezember 2023

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte


Ein Gemütsmensch.
Eine Weihnachtsgeschichte aus der Zeitschrift Glühlichter vom 
24. Dezember 1896.

Gerade heute hatte sie ihm das antun müssen! Gerade heute!
Es war wirklich rücksichtslos von ihr. Es war Gemüt los. Ihm so die Weihnachtsstimmung zu verderben! Diese gute Weihnachtsstimmung, diese angenehme, behagliche Rührung, die ihm immer so wohl tat. Und nun war es natürlich aus damit. 
Marie hatte ihm einen jammervollen Brief geschrieben: Das Kind war tot. 
Er zündete sich eine Zigarette an und ging nachdenklich auf und ab. Das Feuer prasselte lustig im Kamin, es war eine überaus wohlige Temperatur in diesem hübschen, eleganten Zimmer, wo jedes Einrichtungsstück von Wohlstand und frohem Genießen zeugte. Er war der Mann dazu, sich das Leben angenehm zu machen. Gott sei Dank, das hatte er immer verstanden. Er gab sein Geld nicht unnütz aus, nicht für Schrullen und verrückte Liebhabereien. Er war kein Sammler, auch kein philanthropischer Stifter. Er hatte keinen anderen Ehrgeiz, als sich wohl zu fühlen und seine Nebenmenschen, denen er ja stets das Beste wünschte und gönnte, mochten es auch ihrerseits sich so einrichten, wie es ihnen behagte. Er störte Niemanden, aber er ließ sich auch nicht gern stören. 

Und nun dieser Brief! Und gerade heute! Das Kind war also gestorben. Na, wenn man es recht bedenkt, kann man eigentlich sagen, dass das ein Glück ist. Für das Kind selbst! Denn was hat so ein uneheliches Kind, an das seine arme Mutter doch nicht die rechte Pflege wenden kann, im Leben Gutes zu erwarten? Er hat oft gelesen, dass solche Kinder häufig auf böse Wege geraten. Er, der Vater, hätte am Ende noch Scherereien mit diesem — nun ja, es war ja im Grunde sein Sohn — also mit diesem Sohn gehabt. Mein Gott, das bisschen Alimentationsgeld hätte er ja gern gezahlt, darauf kam es ihm nicht an — aber Scherereien? Nein! nur das nicht! Wie gesagt, dieser Todesfall ist ein Glücksfall. Nicht nur von seinem Standpunkt betrachtet — denn wirklich, er ist kein Egoist, das hat er oft bewiesen — aber auch für Marie ist es ein Glück. Sie ist von einer Last befreit, an der sie schwer zu tragen gehabt hatte. Sie wird so viel leichter einen finden, der sie heiratet. An einer kleinen Aussteuer soll es ja nicht fehlen. Dafür wird er schon sorgen, er, der Mann mit dem guten Herzen. Wahrhaftig, das hat er, ein gutes Herz. Das wird ihm niemand abstreiten. Er ist doch so leicht zu rühren. Im Theater merkt er das immer, bei den einfältigsten Rührstücken — alle Welt um ihn her, selbst die Damen bleiben gleichgültig und er hat in einem fort feuchte Augen. Überhaupt, dieses Bewusstsein, ein so guter Mensch zu sein, hat schon an sich etwas Rührendes. Man erquickt sich an sich selbst. Er zog ein parfümiertes Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Augen. Die Feuchtigkeit hatte sich prompt wieder eingestellt. Nun also, das war ja die richtige Weihnachtsstimmung.
Es war Marie eben doch nicht gelungen, ihm die Stimmung ernstlich zu stören. Anfangs hatte ihn dieser Brief verdrossen, betrübt, aufgeregt — aber sein edles Gemüt half ihm über solche Augenblicke stets hinweg. Man musste die Sache eben vom Gemütsstandpunkt ansehen und da verlor der Tod des Kindes alles Traurige und erwies sich als eine Wohltat für alle, für alle! Die arme, gute Marie! Sie tat in dem Brief ganz verzweifelt. Nun, das war eben die erste Aufwallung, etwas Unüberlegtes, eine törichte Übertreibung. Sie wird schon bald dahinter kommen, dass das Unglück eigentlich ein Glück ist.
In einem frivolen französischen Theaterstück hat er einmal sagen hören, dass die Kinder „die Unfälle in der Liebe" sind. Die Franzosen drücken sich in solchen Dingen sehr leichtfertig aus. Aber wahr ist es schließlich doch, wenn man genauer darüber nachdenkt. Als er sich auf das kleine Abenteuer mit Marie einließ, hat er an alles gedacht, nur nicht an ein Kind. An so etwas denkt man doch nur in der Ehe und nicht bei solchen Seitensprüngen. Aber man soll sich eben mit Frauenzimmern nicht einlassen, die nicht verheiratet sind. Er hat fast immer Scherereien gehabt, so oft er von diesem Prinzip abging. Freilich, verdammt hübsch war sie, die Marie, damals, als er sie zum ersten Mal sah, als sie ihm die Haustüre bei Frau Mathilde öffnete. Frau Mathilde hatte immer hübsche Stubenmädchen. Sie fand, dass sich das für ein gutes Haus so zieme. Aber Marie war die Hübscheste von Allen, die er je bei Frau Mathilde gesehen hat, die ganzen fünf oder sechs Jahre, seit er dort verkehrte. Es war das ein merkwürdig dauerhaftes Verhältnis. So lange hatte ihn noch keine gefesselt. Frau Mathilde war eben eine ehrbare, solide Frau, die das Verhältnis mit dem ganzen Zauber der Häuslichkeit, der ruhigen Wohlanständigkeit zu umgeben wusste. An sich war es ja eigentlich, na wir wollen nicht sagen eine Sünde, du lieber Gott, im großstädtischen Leben nimmt man es mit der Moral nicht so ängstlich genau, aber immerhin ist es doch nicht tugendhaft, mit der Frau eines Anderen in so intimen Beziehungen zu leben. Allein, wenn dieser Andere es sich gefallen lässt, wenn er nichts dagegen hat, wenn er die Vorteile dieses Lebens zu Dreien friedlich mit geniest, wenn er den Hausfreund die Kosten der gemeinsamen Behaglichkeit ruhig zahlen lässt, wen geht es dann etwas an? Der Freund einer Frau zu sein, mit Bewilligung ihres Mannes, ist das nicht das Ideal der Gemütlichkeit? Und Frau Mathilde, sie verstand es so wunderbar, diesem Verhältnis jeden Schatten von Unmoralität zu nehmen. Sie breitete den Frieden des Familienlebens darüber aus, sie machte die Sünde ehrbar und das Laster solid. Es durfte kein unpassendes Wort in ihrem Haus gesprochen werden, es herrschte dort der feinste, zarteste Ton und alles war untadelhaft, von der Schürze der Hausfrau bis zu den Manieren der Kinder. Es war in der Tat höchst unpassend von ihm gewesen, in einem Haus, wo so streng auf Sittlichkeit geachtet wurde, sein Auge auf das hübsche Stubenmädchen zu werfen.
Frau Mathilde merkte lange nichts von dem, was vorging. Aber durch eine dumme Unvorsichtigkeit von Marie kam die Sache auf. Es war schrecklich. Natürlich musste Marie sofort aus dem Haus. Denn Frau Mathilde duldete bei ihren Dienstboten kein unmoralisches Betragen, sie war darin streng bis aufs äußerste. Er fand das ein wenig übertrieben, aber schließlich, was konnte er dagegen tun? Frau Mathildes Grundsätze waren nun einmal unerschütterlich. Ach und ihm selbst machte sie eine Szene —! Eine Szene mit Geschrei und Tränen. Es war höchst peinlich, das Peinlichste, woran er sich überhaupt zu erinnern vermochte.

Nun, und nachdem Marie aus dem Hause war, hatte er, als Ehrenmann, als Mann von Herz, sie doch nicht fallen lassen können. Er mietete ihr ein kleines Quartier, einfach, aber nett, und setzte den Verkehr mit ihr fort, was jetzt weit bequemer ging als zuvor. Es war alles jetzt aufs Beste eingeteilt. Das solide Familienleben bei Frau Mathilde und die ungebundene Junggesellenlust bei Marie, er hatte beides zur Verfügung und konnte je nach Bedürfnis häuslich oder leichtfertig sein. Aber da kam dieser verwünschte „Unfall in der Liebe" und die schöne Einteilung ging in die Brüche. Es gab Scherereien, ehe das Kind kam, Scherereien, als es endlich erschien. Scherereien, während es aufwuchs. Und nun wäre er beinahe so töricht gewesen, sich durch den Tod des kleinen Störenfrieds auch noch um den köstlichen Weihnachtszauber bringen zu lassen. Dieses Weihnachtsfest mit all seinen kleinen Sorgen und Mühen, mit dem anstrengenden Nachdenken über passende Geschenke für seine Freundinnen und Freunde, mit all den Bestellungen, Einkäufen, Rechnungen — es war ein Gemütsbedürfnis für ihn. Er freute sich stets schon Wochen lang darauf. Glockengeläute, Tannenduft, Kinderlachen, Familienfrieden, alles was er darüber aus Erfahrung wusste, vermischte sich mit dem, was er in illustrierten Zeitschriften davon gelesen hatte, zu einem dämmerhaften phantastischen Bild. Es tat ihm so unendlich wohl, sich einem sentimentalen Rausch hinzugeben, es wurde ihm so weich ums Herz, er fühlte ein angenehmes Würgen in der Kehle, wie von verhaltenen Tränen und er bewunderte sich stets aufs neue wegen seiner unverminderten Rührungsfähigkeit, wegen seines herrlichen deutschen Gemüts. Und er warf den ärgerlichen Brief, den Marie ihm geschrieben in den Papierkorb, einen zierlich aus feinstem Stroh geflochtenen, schlanken Papierkorb, dessen Deckel von Frau Mathilden's Hand mit einer geschmackvollen Goldstickerei geschmückt war. 
Dann brannte er eine neue Zigarette an und ging fort, auf die Straße hinaus, und warf sich in den wirbelnden, drängenden Menschenstrom der Weihnachtstage. Er hatte noch einige Kleinigkeiten für den Abend zu besorgen, den Festabend, den er, wie sich von selbst versteht, im Familienkreis verbringen wird, bei Frau Mathilde. Alles Wichtigere, die ernsteren Geschenke waren längst eingekauft. Nur gewisse zarte Delikatessen fehlten noch, die Überraschungen für den festlich gestimmten Magen „unserer Lieben".
Es war ein schöner Abend. Unter dem traulichen Schein der Hauslampe saß die Familie fröhlich beisammen. Mit feinfühligster Aufmerksamkeit hatte der Hausfreund für Alles vorgesorgt und unter dem Tannenbaum fand jedes Familienglied wonach sein Herz verlangte. Friedliche Heiterkeit erfüllte die Gemüter, und die Tugend der Hausfrau bewährte sich an dem geschmackvoll zubereiteten und nett servierten Festessen. Es blieb nichts zu wünschen übrig. Und er, der Gemütsmensch, war wieder sehr gerührt und „es gibt doch nichts schöneres als solch ein Heim, still und beglückt, eine zufrieden lächelnde Mutter inmitten ihrer wohlgeratenen Kinder"— so sprach er mit weich umflorter Stimme und stieß mit Frau Mathilde an. 
Da fuhr ihm plötzlich etwas durch den Kopf. Ein dunkler Schatten fiel mit einem Mal in die Lampenhelle. Und er sah einen schwarzen Mann, der einen kleinen Sarg trug und ein weinendes Weib ging hinterher. Es durchschauerte ihn, er wurde blass und schüttelte sich wie im Fieberfrost. „Was ist Ihnen?" fragte Frau Mathilde erschreckt. „Nichts, nichts," sagte er, sich fassend. Und er wiederholte sich im Stillen, dass es ja doch nur ein Glück war, ein Glück für ihn, für Marie, für das Kind selbst... Unsinn, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Er lächelte wieder. 
Aber rücksichtslos war es doch von Marie, Gemüt los war es doch von ihr, ihm gerade heute mit dieser Geschichte zu kommen! Sie hätte ihn beinahe um den rührenden, heiligen Weihnachtsfrieden gebracht.


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