Freitag, 15. März 2019

Dumme, Kranke und Gesunde.

Der Glaube an Heilung hatte schon immer eine große Bedeutung in der Medizin. Heute genauso wie früher. Darum wirken manchmal auch Placebos und niemand weiß wirklich warum. Kein Wunder also, dass sogenannte Wunderheiler seit jeher Kranken gegen Bezahlung Heilung ihrer Leiden versprachen.
Deshalb landeten Wunderheiler auch manchmal vor Gericht, wie die „Tages–Post“ am 3. August 1883 unter dem Titel „Kapitel über die Dummheit“ berichtete.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und der heutigen Schreibweise angepasst.


Da hat, wie die Zeitung berichtete, dieser Tage in Steyr eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, die besagt, dass Derjenige, der mit der Dummheit und dem Aberglauben der Leute spekuliert, ein gutes Geschäft machen kann.
Angeklagt war wegen des Verbrechens des Betruges die 31jährige Zäzilie Immler, ihres Zeichens „Hadern- und Lumpensammlerin“, die sich nebenbei mit „Heilen“ und „Doktern“ zusätzlich Geld verdiente. Die Krankheit selbst war ihr eigentlich immer egal, wenn nur die Bauern ordentlich zahlten und nie gesund wurden.

Das Schönste hierbei war noch, dass die „Heilerin“ auf ihren Hamsterfahrten nach „Hadern“ und dergleichen Altertümern, den Leuten, die sie für ihre Radikalkur auserkoren hatte, die Krankheit erst einreden musste. Es war erstaunlich, wie leicht ihr das gelang. Ihre Opfer fühlten sofort stechen, brennen, zucken und drücken, alle Beschwerden, die sie ihnen einredete.

Als sie in Hinterstoder war, kam sie zu dem Bauernhofbesitzer R., der mit seiner jungen Frau im Hof stand. Die Frau wiegte ihren kränklichen Säugling in den Armen. Die Immler kam um „Hadern und Lumpen“ zu sammeln, aber sie erfasste rasch die Situation, kam auf das Elternpaar zu und betrachtete mit Fachblick den weinenden Säugling. Nach eindringlicher Betrachtung sagte sie endlich: “Das Kind leidet ja an brandigem Blut. Ich werde es anbrauchen (heilen) und gesund machen.“ Nach diesen Worten verlangte sie nach drei rostigen Nägeln und drei Fäden Zwirn, der weiß sein musste. Das alles wurde von den besorgten Eltern sogleich herbei geschafft. Unterdessen ist man in die Stube getreten und die Immler hat mit dem Heilungsprozess begonnen. Die Eltern verfolgten mit zum Gebet gefalteten Händen jede Bewegung der „Heilerin“. Sie zeichnete, die Nägel in der Hand über dem Kind haltend, nach allen Weltgegenden und Himmelsrichtungen, Kreuzzeichen. Dann nahm sie die Zwirnsfäden aus der linken Hand der Mutter und band sie dem schlummernden Kind um den Hals.
Dabei sprach sie die Gebetsformel:
Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! Gestillt und gebunden, so entstanden; das wider deine Gewalt, wider dein Fleisch, wider dein Blut; das ist für alle 72 Stund, für alle 72 Schwund, für alle 72 schlechtes Blut und Abzehrungen. Das hilft dir Gott der Vater, der Sohn und der heilige Geist! Amen. - Kostet 2 Gulden, 16 Kreuzer. zusammen!“.
Fertig war der Zauber. Der Mann zahlte den Betrag in der frohen Hoffnung, seinen Buben kuriert zu wissen.
Aber nicht genug. Der Bauer fragt mit einem glaubensseligen Blick die „Heilerin“ wieso denn das Knäblein zu dem brandigen Blute komme? „Das rührt von der Mutter her“, diagnostiziert die Immler, „sie leidet ebenfalls am brandigen Blut“. Darauf Stille. Der Bauer fühlt ein geheimes Gruseln und streift eigentümlichen Blickes sein junges Weib, das blass mit verweinten Augen den Boden streift und mit der Hand die Immler am Schürzenband zupft. In einem günstigen Moment, da der besorgte Vater sich über das Bett zu seinem kranken Buben beugt, entschlüpfen beide in ein Nebenkämmerlein, wo der vorher beschriebene Schwindel unter Gebet an der Kindesmutter noch einmal begann. Diesmal wurden die Kreuzzeichen mit einem geweihten Stück Holz auf den entblößten Brüsten der Mutter gemacht. Der Zwirnsfaden wurde um die Mitte des entblößten Leibes geschlungen. Das kostete 6 Gulden. Nebenbei machte die „Doktorin“ das Angebot, das nicht nur mit Geld zu bezahlen ist, sondern auch andere Sachen an Geldes statt angenommen werden. Während die glückliche Bäuerin im Begriff stand Sachen als Bezahlung zusammen zu suchen, erzählte die „Doktorin“ weiter, dass es in solchen Fällen immer gut wäre, wenn man als eine Art Nachkur etwas weihen ließe. Dabei sticht ihr eine neunsträngige silberne Halskette in die Augen.
Das müssten aber doch etwas schönere und wertvollere Gegenstände sein“, zirbte sie mit Nachdruck, „weil ich dieselben nach Adlwang bringe, wo sie am Gnadenaltar durch mehrere Tage aufgehängt werden. Da kann man natürlich nichts Schlechtes hinhängen!“ Die Bäuerin übergibt ihr schließlich die Halskette und die „Heilerin“ verlässt einer römischen Matrone gleich den Bauernhof.

Eines anderen Tages tritt die Immler, als Lumpensammlerin, in die Stube eines Bauerngutes in Hinterstoder. Der Mann sitzt am Tisch, sein Weib ist im Zimmer beschäftigt und man bedeutet ihr, dass nichts was in ihren Geschäftszweig schlage, vorhanden sei. Da tritt sie wie "Kassandra" (Kassandra konnte Weissagen, aber niemand glaubte ihr) mit majestätischen Schritten an das Weib heran und hebt ihr die Röcke bis über die Knie hinauf und ruft erschrocken: „Sie haben ja einen brandigen Fuß!“ Mann und Weib erbleichen und sofort beginnt die vorher beschriebene Prozedur von Neuem.
Hockus Pockus und Gebetsformel wie vorher. Dann wird zur Abwechslung aus Hanfwerk ein Strick geflochten und der Bäuerin um den brandigen Fuß und um Brust und Hals gewunden. Den musste sie 14 Tage tragen. Das kostete 2 Kilo Selchfleisch, einen Kittel und 5 Gulden, „weil sie dem Herrn Pfarrer von Adlwang, wo die Sachen geweiht werden, für jedes Stück 20 Kreuzer Trinkgeld geben muss“.

Eine Kellnerin in Schweitzersberg befindet sich sonst ganz wohl, nur das sie aus einem unerklärlichen Grund etwas blass aussieht. Die Immler tritt in das Wirtshaus, bemerkt, dass „Louise blass aussieht“ und erklärt ihr sofort, dass sie am „Schwund“ leide. Sie könne aber diese fürchterliche Krankheit „wenden“. Die Kellnerin, die vielleicht weiß, warum die Wangen gerade heute etwas blässer sind, sträubt sich entschieden gegen jedes Krankheitsgefühl und bemerkt, dass sie nur hie und da (aber heute gerade nicht) an Magenkrämpfen leide. „Was, Magenkrampf? Sie, da kann ich nur alleine helfen! Kommens geschwind herein da.“ Die blasse Kellnerin möchte dann doch ihren Magenkrampf los werden. Die Behandlung kostete 2 Gulden und ein seidenes Kopftuch zum Weihen in Adlwang.

Den religiösen Aberglauben unserer Landbevölkerung mit weiteren Beispielen zu beschreiben, wäre wirklich ekelhaft. Die heute angeklagte Immler bezeichnete dem Gerichtshof in ihrem reumütigen Geständnis selbst ihr „Heilen“ als den reinsten Schwindel. Um der Landbevölkerung ihre Heilkraft eindrucksvoll vor Augen zu führen, musste jeder Hexenspuk und auch das Vaterunser herhalten.
Die Zahl der Geprellten ist nicht genau feststellbar, weil sich viele, Gott sei Dank, ihrer eigenen Dummheit wegen schämten und aus Selbsterkenntnis schwiegen.   


Alte Bilder von Kurpfuschern und Wunderheilern gibt es schon seit Jahrhunderten, wie dieses Bild von dem niederländischen Maler Jan Havickszoon Steen (geb.1626, gest.1679) zeigt.

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