Freitag, 24. September 2021

Erinnerungen 1943 bis 1947 von Peter Grassnigg - Teil 3

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  

Steyr

Peter Grassnigg

Die Läuse


Einmal war die ganze Schule davon betroffen. Das heißt, fast alle Kinder hatten Läuse.
Wahrscheinlich lag das an den Flüchtlingen, die in Kolonnen durch den Ort zogen. Auch mein kleiner Bruder und ich hatten welche. Das einzige in Vorderstoder dagegen erhältliche und geeignete Mittel war das Petroleum. Man konnte es bei der Krämerin kaufen, die ein ganzes Fass davon im Vorhaus stehen hatte. Von dort zog sich sein Geruch bis vor die Haustür, aber auch in den Laden hinein, wodurch eine Duftmischung der besonderen Art entstand.
Die meisten Häuser in Vorderstoder hatten noch kein elektrisches Licht. Petroleumlampen und Kerzen dienten als Ersatz und die Krämerin machte ein gutes Geschäft mit der stinkenden Flüssigkeit.
Bevor uns die Mutter mit Petroleum gegen Läuse behandelte, schnitt sie uns die Haare kurz. Nicht etwa mit einer Schere, sondern mit einem Gerät, das vorne schmale Zähne wie ein Kamm aufwies. Durch das Drücken an zwei kurzen Hebeln zwischen dem Daumen und den übrigen Fingern bewegte sich hinter den Zähnen ein Messer hin und her, das die Haare in die gewünschte Länge brachte. Ich hasste diese Prozedur, weil sie mehr an den Haaren riss, als sie zu schneiden.
Danach rieb die Mutter unsere Köpfe mit verdünntem Petroleum ein und bedeckte sie mit einem Tuch. Anschließend durften wir für geraume Zeit nicht aus dem Haus. Nach einer Weile fing mein kleiner Bruder laut zu schreien und zu heulen an und riss sich das Tuch vom Kopf. Seine Haut war ganz rot und voller Blasen. Das Petroleum hatte dort seine ganze Wirkung entfaltet. Mir hat die Einreibung aus ungeklärten Gründen nichts getan und ich bin ohne merklichen Schaden zu nehmen, entlaust worden.

Das Krämerhaus

Bewusst wähle ich diese Überschrift, weil ich mich nur an das Gebäude, nicht aber genau an eine darin tätige Person erinnern kann. Ich glaube, dass sie Ida hieß und nicht mehr die Jüngste war.
Die Krämerei lag nur wenige Schritte rechts vom Schulhaus, hatte kleine vergitterte Fenster und die Haustüre in der Mitte. Es dürfte sich bei dem Objekt um eines der ältesten des gesamten Ortes gehandelt haben. Da die Krämerei in Rufweite der Schule lag, durfte ich mich dort gefahrlos herumtreiben.
Durch die meist offene Haustüre gelangte man in das kleine, niedrige Vorhaus. Dort türmte sich an den Wänden, fein säuberlich getrennt, bäuerliches Wirtschaftsgerät auf: Rechen, Gabeln, Sensen, Sicheln, Werkzeug für die Feld- und Waldarbeit, Seile, Ketten usw. In Kopfhöhe lief rundum eine Ablage von einem halben Meter Breite, auf der sich Gegenstände aus Blech befanden: Schüsseln, Kannen, Kübel, Töpfe, alles von unterschiedlicher Farbe und Größe sogar teilweise ineinander gestapelt. Mit einem Wort, ein richtiges Durcheinander. Eine steile Holztreppe führte in das Obergeschoß, das zwei niedrige kleine Räume enthielt. In der Ecke hinter der Treppe stand das Petroleumfass mit einer Handpumpe. Die Tür zum Laden war mit einem Glöckchen versehen, das einen lauten Ton von sich gab und der Krämerin Kunden anzeigte, wenn sie sich in ihrem linksseitig gelegenen Privatbereich aufhielt.
Den Geruch, den das ganze Haus erfüllte, kann man nicht beschreiben. Es roch und stank gleichzeitig, je nachdem in welchem Bereich des Hauses man sich gerade aufhielt und in welcher Jahreszeit man anwesend war.
Das wichtigste Utensil im Laden war die quer zur Tür stehende Budel. Auf ihr spielte sich das gesamte Geschäftsleben ab. Eine entscheidende Rolle hatte bei den meisten Produkten das Gewicht.
Die Waage zeigte von beiden Seiten sichtbar das richtige Maß an. Fertig verpackte Ware kam praktisch nicht vor, alles wurde in Papiersäcken und Tüten eingewogen.
Über dem Ladentisch hing eine Krämerschlange aus Holz und von dieser wiederum Bänder und Schnüre sowie allerhand anderes Zeug herunter. Faszination löste bei mir der in der Deckplatte der Budel eingefräste Schlitz aus, durch den die Krämerin die eingenommenen Münzen fallen ließ.

Geregelte Öffnungszeiten gab es nicht. Am besten lief das Geschäft an einem Sonntag Vormittag. Nach der Frühmesse deckten die Frauen ihren Bedarf, dann kamen erst die Männer.
Wegen des Krieges wurden die am Kirchenplatz stehenden diskutierenden Gruppen immer kleiner.
Für die Männer hielt die Krämerin Rauchwaren unterschiedlichster Art bereit, da sie auch über eine Tabakverschleißstelle verfügte, wie ein Schild an der Außenwand des Hauses anzeigte. Durch den Kriegsverlauf machte sich auch in unserem Ort der Lebensmittelmangel bemerkbar. Bei den Einheimischen hatte das keine so große Bedeutung, wie bei der zunehmenden Zahl an Evakuierten und Flüchtlingen.

Fliegeralarm und Luftschutzkeller

Aus Sorge um ihren schwer kranken Vater fuhr die Mutter mit uns Kindern während des Krieges gelegentlich mit Sack und Pack nach Steyr. Dafür benötigten wir von Vorderstoder bis zum Bahnhof nach Roßleithen ein Pferdegespann. Die Mutter sagte zum Fuhrmann: „Das ist wie der Auszug der heiligen Familie aus Ägypten.“ Zunächst ging es mit der Phyrnbahn bis nach Klaus. Dort stiegen wir in die Steyrtalbahn um. Am Steyrer Lokalbahnhof erwartete uns die Großmutter.
Ich wurde aus Sicherheitsgründen und wegen der schwierigen Ernährungslage in die Bahnhofstraße zu Oma und Opa verfrachtet, während sich meine Mutter mit dem Bruder bei ihren Eltern in der Grillparzerstraße einquartierte.
Wenn in Steyr die Sirenen heulten, öffneten die Leute wegen des bei einem Bombenangriff entstehenden Luftdrucks alle Fenster und liefen mit einem das Nötigste beinhaltenden Rucksack oder Koffer in den zugewiesenen Schutzraum.
Für die Bahnhofstraße war dies jener unter dem Schloss Lamberg mit dem Eingang an der Steyr kurz vor ihrem Zusammenfluss mit der Enns.
Die Oma verpasste mir einen kleinen Rucksack, der Leibwäsche enthielt. So bepackt liefen wir gemeinsam die Bahnhofstraße hinunter, über die Ennsbrücke dem aus dem Konglomeratfelsen herausgebrochenen Keller entgegen.
In der ersten Stunde unseres Aufenthaltes brannte dort noch die elektrische Deckenbeleuchtung. Diese fiel allerdings bald aus, es wurde stockdunkel und die Gespräche verstummten zu einem Gemurmel. Nach einem für mich nicht mehr nachvollziehbaren Zeitraum entzündete jemand eine Kerze, die den Gang, in dem wir auf Bänken saßen, ein wenig erhellte. Wieder nach einer Weile bemerkte ich, dass eine Frau einen Brotlaib auspackte und mit einem Messer Stücke davon abschnitt. Ich bekam auch eines und verspeiste es auf Anraten der Oma langsam kauend.
Später nahm das Gerede wieder zu, weil durchsickerte, dass Steyr mit seiner Kriegsindustrie das Ziel feindlicher Angriffe gewesen sei. Auf dem Weg zurück in die Bahnhofstraße sahen wir, dass ein Nachbarhaus einen Treffer abbekommen hatte und bei uns eine Menge Fensterscheiben kaputt gegangen waren.

Der Opa war aufgrund seines Alters, er war damals ca. 57, kein Soldat, allerdings gehörte er dem in Zivil dienenden Volkssturm an, der die Steyrer Brücken bewachen musste. Ich durfte ihm bei der Reparatur der Fensterscheiben helfen. Glas gab es in Steyr längst nicht mehr zu kaufen. Opa schnitt Karton zu und setzte ihn statt der Scheiben in die Rahmen. Mit meinen kleinen Fingern reichte ich ihm die Nägel, die er zur Befestigung des Kartons brauchte.

Freitag, 17. September 2021

Die Zeit von 1943 bis 1947 von Peter Grassnigg - Teil 2


Peter Grassnigg

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  

Das Feldkino

Die mediale Propaganda der Nazis erfüllte hauptsächlich den Zweck, die Wehrmoral im Hinterland und an der Front zu festigen. Der Film bildete dazu, ob seiner damals bestehenden Einmaligkeit, ein ideales Mittel zum Zweck. Eines Tages wurden im ohnehin schon beengten Vorraum der Schule mehrere Kisten und Geräte vorübergehend abgestellt, von denen es hieß, dass das die gesamte Ausrüstung für ein Feldkino wäre. An und für sich müsste man diesem Ereignis keine sonderliche Beachtung schenken bzw. überhaupt erwähnen, wenn es nicht für mich mit Folgen verbunden gewesen wäre.

Wahrscheinlich zur Bewachung der eingelagerten Objekte stand unter dem Türstock des Eingangs zur Schule ein in schwarzer Uniform und schön geputzten schwarzen Stiefeln bekleideter Soldat. Da das Schulhaus über keinen zweiten Ausgang verfügte und ich mich nicht traute, den großgewachsenen Mann anzusprechen, versuchte ich, auf allen Vieren durch seine gespreizten Beine ins Freie zu gelangen. Bei diesem Versuch erschrak der Mann und stieg mir unabsichtlich auf den kleinen Finger der rechten Hand. Mit einem fürchterlichen Geschrei lief ich den kurzen Gang zurück zur Küche und zu meiner Mutter.

Die Folge dieses Missgeschicks war ein blauer Fingernagel, den ich, als der ärgste Schmerz verflogen war, bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter Schilderung des Tatherganges stolz vorzeigte.

Die Einlagerung

Wenn in unserem Bergdorf während des Zweiten Weltkrieges ein Auto anhielt, statt durchzufahren, war das eine kleine Sensation. Besonders für uns Kinder. Wir standen herum, staunten, so auch als ein mittelgroßer mit einer Plane bedeckter LKW vor unserer Schule anhielt und drei Uniformierte aus dem Führerhaus sprangen. Einer von ihnen schritt durch die immer offene Haustür der Schule und verlangte nach einer Lehrperson. Meine Mutter erklärte ihm, dass sie die Frau des im Krieg befindlichen Oberlehrers sei, hier wohne und am späten Nachmittag weder Kinder noch Lehrer in der zweiklassigen Volksschule anwesend wären.
Die beiden anderen Soldaten öffneten die hintere Bordwand des LKW und luden verpackte, flache Gegenstände unterschiedlicher Größe ab und stellten sie in den Hausflur.
Es handle sich um eine geheime Reichssache, erklärte der Anführer meiner Mutter, die Einlagerung erfolge kurzzeitig und sie trage als einzige Geheimnisträgerin die Verantwortung für die Sicherheit der Gegenstände. Als meine Mutter erwiderte, dass sie keine Garantie abgeben könne, erklärte ihr der Mann: „Sperren sie halt die Tür zu, denn wenn etwas fehlt, werden alle, die Kenntnis von der Sache haben, erschossen.“
Inzwischen trugen die beiden anderen Soldaten immer mehr Material herein, stellten es entlang der Wände im Flur ab, sodass nur ein kleiner Streifen zum Gehen übrig blieb. Selbst die Türen zur ebenerdig gelegenen Klasse und zu meinem Kinderschlafzimmer stellten sie zu.
Nach einigen Tagen war der Spuk wieder vorbei, die Sachen waren abgeholt worden und meine Mutter erleichtert und befreit.
An einen Ausspruch meines Spielgefährten, des Bäcker Poldi, zu diesem Ereignis, kann ich mich noch erinnern: „Jetzt is nix mehr mit dem daschiassn“.
Erst später erfuhr ich, dass es sich bei der Einlagerung um Bilder, die für den Salzstollen in Bad Aussee bestimmt waren, gehandelt hat.
(In den stillgelegten Werksanlagen des Altausseer Salzbergwerks wurde ab 1943 zum Schutz vor Bomben ein großes Depot von Raubkulturgütern aus Museen, Kirchen und Klöstern eingerichtet). 

                                                        Michelangelos Brügger Madonna bei der
                                                      Bergung aus dem Salzbergwerk Altaussee 1945

Die KZ-ler kommen

Als einer meiner Spielgefährten das in unser Vorhaus hineinrief, rannte ich vor das Schulhaus und sah den Zug langsam den Stockerberg heraufkommen und an mir vorbei ziehen.. Ich hatte natürlich keine Ahnung über das Was und das Wie und nahm das Ereignis eigentlich ohne besondere Gemütsbewegung in mich auf. Wie in einem Kurzfilm ist mir folgendes in Erinnerung geblieben:
Zumindest die Front des Zuges marschierte im Gleichschritt. Doch je weiter er sich in die Länge zog, desto schwerfälliger bewegten sich die Nachkommenden. Die Vorderen bildeten in der allseits bekannten gestreiften Häftlingskleidung eine Fünfer- oder Sechserreihe gegenseitig mit den Ellbogen eingehängt und dicht aneinander gedrängt. Sie trugen alle Holzschuhe und murmelten leise zur Erhaltung des Gleichschrittes. Die Füße setzten sie in kurzen Abständen hintereinander.
Wenige Wächter begleiteten den Zug. Mir fiel nur auf, dass sie alle mit einem Mantel bekleidet und mit einem Gewehr bewaffnet waren. Einen Stahlhelm hatten sie auf dem Kopf.
Hinter dem Zug fuhr ein "Holzgaser" (Auto mit Holzvergaser)  mit einer Ladefläche, aus der hinten nackte Füße heraus schauten. Woher die nur aus Männern bestehende Kolonne kam und was ihr Ziel war, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Ich kam aber später zum Schluss, dass der Umweg durch das Steyr- und das Stodertal nur der Verlängerung des Todesmarsches diente.

Freitag, 10. September 2021

Aus der Zeit von 1943 bis 1947. Erinnerungen von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 1








Oberlehrer Fritz Grassnigg und Sohn Peter

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war. Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig, in einem Schneesturm am Priel um´s  Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Peter Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  

Der Anfang

Eigentlich verdanke ich meine Existenz dem Vorgesetzten meines Vaters bei der Deutschen Wehrmacht, der ihm zu Weihnachten des Jahres 1939 einen Heimaturlaub gewährte. Anfang September 1940 kam ich im Krankenhaus der Diakonissen in Linz zur Welt.

Die ersten Lebensjahre verbracht ich in Vorderstoder, wohin der Vater als Oberlehrer der dortigen zweiklassigen Volksschule wenige Monate vor Kriegsbeginn versetzt wurde. Eigentlich war Vorderstoder ein Strafposten, abgeschieden und fernab von jeder Verkehrsverbindung. Mein Vater, geboren 1910, mit Vornamen Fritz, war in Steyr bekennender Sozialdemokrat und wurde deshalb in die einsame Gebirgsgegend entsorgt. Relativ rasch nach dem Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich wurde er zur Hitler-Wehrmacht eingezogen. Wir wohnten im Schulhaus. Ebenerdig waren die Küche und ein Kinderzimmer, im ersten Stock darüber das Wohn- und das Elternschlafzimmer. In letzterem bedeckte die Stirnwand eine Tapete, hinter der sich ein Fenster samt Nische verbarg. Die Mutter und ich lebten nicht alleine im Haus. Das Dachgeschoß beherbergte eine junge Witwe, deren Mann bereits in den ersten Kriegstagen gefallen war. Das war später die Tante Paula, die als Lehrerin die Unterstufe (1.- 4. Klasse) unterrichtete.
An den Vater kann ich mich nur schemenhaft erinnern, er war ja die meiste Zeit im Krieg. Nach ein paar Urlaubstagen begleiteten wir ihn einmal zum Bahnhof Pießling-Vorderstoder, wo ein Güterzug extra seinetwegen halten musste. Er bestieg einen Waggon, dessen Öffnung mit einer Querstange versehen war. Aus dem ausfahrenden Zug winkte er uns noch lange nach.
Ich besitze noch einige Fotos die aus dem Jahr 1942 oder 1943 stammen dürften, auf denen wir zusammen, er in Zivil oder in Uniform dargestellt sind. Auch spätere Bilder, die zeugen, dass er mir das Schifahren beibringen wollte, besitze ich.

1943 kam mein Bruder Wolfgang in Steyr zur Welt. Von seinem Baby- und Kleinkindesalter ist nichts in mir haften geblieben. Im März 1946 kehrte der Vater aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Vorderstoder zurück. Das muss zu einer Tageszeit gewesen sein, in der es finster war und ich schlief. Von meinem Bruder wurde berichtet, dass er seine Ankunft schlaftrunken nur mit den Worten kommentiert habe: „Der Peter hat ein Zahnloch“!

Die Sau

Meine erste und soweit ich mich erinnere einzige Erfahrung mit einer körperlichen Züchtigung machte ich im Alter zwischen drei und vier Jahren. Und das kam so:

Der Bäckermeister und Bürgermeister Riedler vergrößerte sein Geschäft mit einem Anbau. Dadurch entstand dort ein Erdhügel, der sich für uns Kinder zu einem idealen Spielplatz entwickelte. Wir bauten Rinnen mit Serpentinen hinein, in denen wir Kugeln von oben nach unten laufen lassen konnten. Auch Wasser kam zum Einsatz, was der Bekleidung nicht gut tat und meine Mutter nach dem Heimkommen zur Aussage verleitete: „Wie schaust denn Du heute wieder aus!“

Soweit die einleitende Vorgeschichte, die ich allerdings mit einer zweiten ergänzen muss: In unmittelbarer Nähe von Kirche und Friedhof stand ebenfalls erhöht ein kleines ebenerdiges, nur aus zwei winzigen Räumen bestehendes Häuschen, in dem der Schuster seine Werkstatt betrieb. Diese war gleichzeitig auch Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Dass es dort den Umständen entsprechend aussah, wunderte im Ort niemand, man gab aber der Frau des Schusters die Schuld an der Unordnung. Die im Umfeld wohnenden Kinder hörten von den Erwachsenen, die in der Überschrift genannte Bezeichnung und riefen, wenn sie in Hausnähe auftauchte, von weitem „....Sau! .....Sau!“, um sich gleich danach zu verstecken, damit sie nicht erkannt bzw. erwischt werden konnten. Er, der Schuster, blieb von diesen Anfeindungen verschont, denn er übte neben dem Beruf des Schusters auch den des Mesners und des Luftschutzwartes aus. Das alles zusammen verlieh im Persönlichkeitsstatus.

Eines schönen Tages spielten wir wieder auf dem Erdhaufen, der nur die Friedhofslänge vom Schusterhäusl entfernt lag. Als die größeren Spielgefährten der Schusterin ansichtig wurden, weil sich diese im Hausgarten zu schaffen machte, begannen sie mit dem vorhin zitierten Geschrei „.....Sau, ......Sau“ und liefen davon. Ich, in meiner kindlichen Naivität, blieb am Erdhaufen sitzen und spielte weiter. Dadurch geriet ich in die Fänge der herbei geeilten und laut gestikulierenden und wütenden Frau. Sie zog mich an den Haaren vom Hügel herunter, haute mir ein paar auf den Hintern und zog mich an den Trägern meiner Lederhose zur Mutter in das dem Friedhof gegenüberliegende Schulhaus. Durch mein Gezeter und Strampeln aufmerksam geworden, trat die Mutter vor die Tür und erfuhr von der nach wie vor Aufgebrachten was geschehen war. Den Hinweis auf mein Alter und meinen kindlichen Unverstand ließ die Beschimpfte nicht gelten. Nach einer kurzen Debatte entfernte sie sich, nicht ohne meine Mutter zu belehren: „Frau Oberlehrer, bringans Ihnan Buam a Bütung bei!“

Die Schule als Sammellager

Für den „Winterkrieg im Osten“ führte die NSDAP-Ortgruppenleitung eine Sammelaktion durch. Die Spenden wurden im Eingangsbereich der Schule vor dem Abtransport zwischen gelagert.

Die Hilfslieferung bestand aus Schachteln voller warmer Unterkleidung, Kartons gefüllt mit Wollsocken usw. Schi unterschiedlicher Größe mit Stöcken lehnten an den Wänden des Vorhauses.

An einem Nachmittag fiel, als keine Kinder mehr im Hause waren, das ganze Zeug mit einem fürchterlichen Krach um und versperrte den Ausgang. Wir saßen in der Falle, die Mutter, mein Bruder und ich. Alleine konnten wir uns aus diesem Durcheinander nicht befreien und zur Tür gelangen. Zum Glück fehlten in der Schule bei den Fenstern die sonst im Ort üblichen Gitter. Die Mutter befahl mir, aus dem Fenster meines ebenerdig gelegenen Kinder- und Schlafzimmers auf die Straße zu klettern und Hilfe herbei zu holen. „Lauf in die Bäckerei zum Bürgermeister hinüber und berichte, was geschehen ist“, trug mir die Mutter auf. Von dort aus wurde die Befreiung organisiert, bei welcher der Bürgermeister, der Mesner, die Krämerin und die Frau des Gendarmen kräftig zulangen mussten.

Zunächst trug man alle Einzelteile auf die Straße hinaus. Bei den Schiern und Stöcken machte die Paarfindung Schwierigkeiten und führte zu Diskussionen. Die Schachteln trugen die „Retter“ wieder in den Gang hinein. Um eine Wiederholung des Ganzen zu vermeiden fanden die Schi und die Stöcke an der Außenwand der Schule Aufnahme. Wegen des dort angebrachten Obstspaliers konnten sie nicht mehr umfallen.


Freitag, 3. September 2021

Der Schüler

In der Oberdonau-Zeitung berichtete am 6. 8.1944 W. Eybel in einer Anekdote  über den  berühmten Komponisten Ludwig van Beethoven (geb.1770, gest. 1827). Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Die Fahrt in der Postkutsche war kein Vergnügen gewesen. Als die kräftigen Braunen im Vorhof zur Ausspannung ganz von selbst stehen blieben.
Augsburg, der erste Rastort, war erreicht, da erhob sich auch der schweigsame junge Mann, dessen letztes Ziel, Wien, noch fern war. Die Sonne lockte ihn einige Schritte zu gehen und der Durst quälte unwiderstehlich. Mit der Reisekost war es schlecht bestellt. Die besorgte Mutter war krank, sonst hätte sie ihn mit allem überreichlich versorgt. Bei dem Denken an die Mutter, verdüsterten sich die, trotz der Jugend des Reisenden, gefestigten Züge und die Lippen hatten wieder den befremdlich harten Zug, den der oberflächliche Betrachter wohl falsch gedeutet hätte, wenn er daraus ungünstige Eigenschäften hätte ablesen mögen.

Bei einem frischen Trunk war ihm der verlockende Einfall gekommen, den vielgerühmten Meister Stein aufzusuchen, der, wie er wusste, die trefflichsten Klaviere baute. Er brauchte nicht zu suchen. Schon von weither führten ihn die Akkorde eines gestimmten Klaviers auf den rechten Weg. Als er den kleinen Vorgarten durchschritten hatte und die offenstehende Tür zur Werkstatt erreichte, traf ihn die Frage: „Wohin junger Herr?“ Es war wohl der Meister selbst. Er strich sich das graue Haar mit ungewöhnlich schmalen Händen aus der Stirn. Seine klugen Augen ruhten in dem offenen Blick seines Besuchs. Er nickte, als er hörte, dass der Herr Kapellmeister Neefe ihn schön grüßen lasse. „Der Neefe! So haben wir nicht viele und Sie sind?“ Der Gefragte, ganz in den Anblick eines Instruments versunken, erwiderte höflich: „Ich bin sein Schüler! — darf ich?“ Es bedurfte keiner Erklärung was er dürfe. Der Meister nickte wohlwollend. Sein Gesicht, das ein Leben der Arbeit, das Ringen um das Höchste zeichnete, wurde ernst, es war ein feierlicher Ernst. Als die letzten Akkorde verklangen, legte er dem Schüler seines alten Freundes die Hand auf die Schulter, er sagte nicht, dass ihn das Spiel mit manchem Schweren und Bitteren seines Lebens aussöhnte, doch als der Gast sich verabschieden wollte, sagte er mit bewegter Stimme: „Und wenn ich nur Klaviere gebaut hätte, um Sie einmal darauf spielen zu hören, es hätte sich gelohnt!.“
„Meister“, wies der Junge dies von sich, „ich bin doch noch ein Schüler, ich fahre nach Wien, zu Mozart.“ Jubel war in seiner Stimme bei dem Namen Mozart. „Und wer fährt zu Mozart", forschte der Meister und er wiederholte noch oft, als der Gast schon lang gegangen war: „Ludwig van Beethoven“.

Ludwig van Beethoven


Klavierbauer Stein Augsburg



Locke von Beethoven

Briefmarken Beethoven zu Ehren gibt es in vielen Ländern

Beethoven-Denkmal in Wien