Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.
Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.
Steyr |
Peter Grassnigg |
Die Läuse
Einmal war die ganze Schule davon betroffen. Das heißt, fast alle Kinder hatten Läuse.
Wahrscheinlich lag das an den Flüchtlingen, die in Kolonnen durch den Ort zogen. Auch mein kleiner Bruder und ich hatten welche. Das einzige in Vorderstoder dagegen erhältliche und geeignete Mittel war das Petroleum. Man konnte es bei der Krämerin kaufen, die ein ganzes Fass davon im Vorhaus stehen hatte. Von dort zog sich sein Geruch bis vor die Haustür, aber auch in den Laden hinein, wodurch eine Duftmischung der besonderen Art entstand.
Die meisten Häuser in Vorderstoder hatten noch kein elektrisches Licht. Petroleumlampen und Kerzen dienten als Ersatz und die Krämerin machte ein gutes Geschäft mit der stinkenden Flüssigkeit.
Bevor uns die Mutter mit Petroleum gegen Läuse behandelte, schnitt sie uns die Haare kurz. Nicht etwa mit einer Schere, sondern mit einem Gerät, das vorne schmale Zähne wie ein Kamm aufwies. Durch das Drücken an zwei kurzen Hebeln zwischen dem Daumen und den übrigen Fingern bewegte sich hinter den Zähnen ein Messer hin und her, das die Haare in die gewünschte Länge brachte. Ich hasste diese Prozedur, weil sie mehr an den Haaren riss, als sie zu schneiden.
Danach rieb die Mutter unsere Köpfe mit verdünntem Petroleum ein und bedeckte sie mit einem Tuch. Anschließend durften wir für geraume Zeit nicht aus dem Haus. Nach einer Weile fing mein kleiner Bruder laut zu schreien und zu heulen an und riss sich das Tuch vom Kopf. Seine Haut war ganz rot und voller Blasen. Das Petroleum hatte dort seine ganze Wirkung entfaltet. Mir hat die Einreibung aus ungeklärten Gründen nichts getan und ich bin ohne merklichen Schaden zu nehmen, entlaust worden.
Das Krämerhaus
Bewusst wähle ich diese Überschrift, weil ich mich nur an das Gebäude, nicht aber genau an eine darin tätige Person erinnern kann. Ich glaube, dass sie Ida hieß und nicht mehr die Jüngste war.
Die Krämerei lag nur wenige Schritte rechts vom Schulhaus, hatte kleine vergitterte Fenster und die Haustüre in der Mitte. Es dürfte sich bei dem Objekt um eines der ältesten des gesamten Ortes gehandelt haben. Da die Krämerei in Rufweite der Schule lag, durfte ich mich dort gefahrlos herumtreiben.
Durch die meist offene Haustüre gelangte man in das kleine, niedrige Vorhaus. Dort türmte sich an den Wänden, fein säuberlich getrennt, bäuerliches Wirtschaftsgerät auf: Rechen, Gabeln, Sensen, Sicheln, Werkzeug für die Feld- und Waldarbeit, Seile, Ketten usw. In Kopfhöhe lief rundum eine Ablage von einem halben Meter Breite, auf der sich Gegenstände aus Blech befanden: Schüsseln, Kannen, Kübel, Töpfe, alles von unterschiedlicher Farbe und Größe sogar teilweise ineinander gestapelt. Mit einem Wort, ein richtiges Durcheinander. Eine steile Holztreppe führte in das Obergeschoß, das zwei niedrige kleine Räume enthielt. In der Ecke hinter der Treppe stand das Petroleumfass mit einer Handpumpe. Die Tür zum Laden war mit einem Glöckchen versehen, das einen lauten Ton von sich gab und der Krämerin Kunden anzeigte, wenn sie sich in ihrem linksseitig gelegenen Privatbereich aufhielt.
Den Geruch, den das ganze Haus erfüllte, kann man nicht beschreiben. Es roch und stank gleichzeitig, je nachdem in welchem Bereich des Hauses man sich gerade aufhielt und in welcher Jahreszeit man anwesend war.
Das wichtigste Utensil im Laden war die quer zur Tür stehende Budel. Auf ihr spielte sich das gesamte Geschäftsleben ab. Eine entscheidende Rolle hatte bei den meisten Produkten das Gewicht.
Die Waage zeigte von beiden Seiten sichtbar das richtige Maß an. Fertig verpackte Ware kam praktisch nicht vor, alles wurde in Papiersäcken und Tüten eingewogen.
Über dem Ladentisch hing eine Krämerschlange aus Holz und von dieser wiederum Bänder und Schnüre sowie allerhand anderes Zeug herunter. Faszination löste bei mir der in der Deckplatte der Budel eingefräste Schlitz aus, durch den die Krämerin die eingenommenen Münzen fallen ließ.
Geregelte Öffnungszeiten gab es nicht. Am besten lief das Geschäft an einem Sonntag Vormittag. Nach der Frühmesse deckten die Frauen ihren Bedarf, dann kamen erst die Männer.
Wegen des Krieges wurden die am Kirchenplatz stehenden diskutierenden Gruppen immer kleiner.
Für die Männer hielt die Krämerin Rauchwaren unterschiedlichster Art bereit, da sie auch über eine Tabakverschleißstelle verfügte, wie ein Schild an der Außenwand des Hauses anzeigte. Durch den Kriegsverlauf machte sich auch in unserem Ort der Lebensmittelmangel bemerkbar. Bei den Einheimischen hatte das keine so große Bedeutung, wie bei der zunehmenden Zahl an Evakuierten und Flüchtlingen.
Fliegeralarm und Luftschutzkeller
Aus Sorge um ihren schwer kranken Vater fuhr die Mutter mit uns Kindern während des Krieges gelegentlich mit Sack und Pack nach Steyr. Dafür benötigten wir von Vorderstoder bis zum Bahnhof nach Roßleithen ein Pferdegespann. Die Mutter sagte zum Fuhrmann: „Das ist wie der Auszug der heiligen Familie aus Ägypten.“ Zunächst ging es mit der Phyrnbahn bis nach Klaus. Dort stiegen wir in die Steyrtalbahn um. Am Steyrer Lokalbahnhof erwartete uns die Großmutter.
Ich wurde aus Sicherheitsgründen und wegen der schwierigen Ernährungslage in die Bahnhofstraße zu Oma und Opa verfrachtet, während sich meine Mutter mit dem Bruder bei ihren Eltern in der Grillparzerstraße einquartierte.
Wenn in Steyr die Sirenen heulten, öffneten die Leute wegen des bei einem Bombenangriff entstehenden Luftdrucks alle Fenster und liefen mit einem das Nötigste beinhaltenden Rucksack oder Koffer in den zugewiesenen Schutzraum.
Für die Bahnhofstraße war dies jener unter dem Schloss Lamberg mit dem Eingang an der Steyr kurz vor ihrem Zusammenfluss mit der Enns.
Die Oma verpasste mir einen kleinen Rucksack, der Leibwäsche enthielt. So bepackt liefen wir gemeinsam die Bahnhofstraße hinunter, über die Ennsbrücke dem aus dem Konglomeratfelsen herausgebrochenen Keller entgegen.
In der ersten Stunde unseres Aufenthaltes brannte dort noch die elektrische Deckenbeleuchtung. Diese fiel allerdings bald aus, es wurde stockdunkel und die Gespräche verstummten zu einem Gemurmel. Nach einem für mich nicht mehr nachvollziehbaren Zeitraum entzündete jemand eine Kerze, die den Gang, in dem wir auf Bänken saßen, ein wenig erhellte. Wieder nach einer Weile bemerkte ich, dass eine Frau einen Brotlaib auspackte und mit einem Messer Stücke davon abschnitt. Ich bekam auch eines und verspeiste es auf Anraten der Oma langsam kauend.
Später nahm das Gerede wieder zu, weil durchsickerte, dass Steyr mit seiner Kriegsindustrie das Ziel feindlicher Angriffe gewesen sei. Auf dem Weg zurück in die Bahnhofstraße sahen wir, dass ein Nachbarhaus einen Treffer abbekommen hatte und bei uns eine Menge Fensterscheiben kaputt gegangen waren.
Der Opa war aufgrund seines Alters, er war damals ca. 57, kein Soldat, allerdings gehörte er dem in Zivil dienenden Volkssturm an, der die Steyrer Brücken bewachen musste. Ich durfte ihm bei der Reparatur der Fensterscheiben helfen. Glas gab es in Steyr längst nicht mehr zu kaufen. Opa schnitt Karton zu und setzte ihn statt der Scheiben in die Rahmen. Mit meinen kleinen Fingern reichte ich ihm die Nägel, die er zur Befestigung des Kartons brauchte.
Wahrscheinlich lag das an den Flüchtlingen, die in Kolonnen durch den Ort zogen. Auch mein kleiner Bruder und ich hatten welche. Das einzige in Vorderstoder dagegen erhältliche und geeignete Mittel war das Petroleum. Man konnte es bei der Krämerin kaufen, die ein ganzes Fass davon im Vorhaus stehen hatte. Von dort zog sich sein Geruch bis vor die Haustür, aber auch in den Laden hinein, wodurch eine Duftmischung der besonderen Art entstand.
Die meisten Häuser in Vorderstoder hatten noch kein elektrisches Licht. Petroleumlampen und Kerzen dienten als Ersatz und die Krämerin machte ein gutes Geschäft mit der stinkenden Flüssigkeit.
Bevor uns die Mutter mit Petroleum gegen Läuse behandelte, schnitt sie uns die Haare kurz. Nicht etwa mit einer Schere, sondern mit einem Gerät, das vorne schmale Zähne wie ein Kamm aufwies. Durch das Drücken an zwei kurzen Hebeln zwischen dem Daumen und den übrigen Fingern bewegte sich hinter den Zähnen ein Messer hin und her, das die Haare in die gewünschte Länge brachte. Ich hasste diese Prozedur, weil sie mehr an den Haaren riss, als sie zu schneiden.
Danach rieb die Mutter unsere Köpfe mit verdünntem Petroleum ein und bedeckte sie mit einem Tuch. Anschließend durften wir für geraume Zeit nicht aus dem Haus. Nach einer Weile fing mein kleiner Bruder laut zu schreien und zu heulen an und riss sich das Tuch vom Kopf. Seine Haut war ganz rot und voller Blasen. Das Petroleum hatte dort seine ganze Wirkung entfaltet. Mir hat die Einreibung aus ungeklärten Gründen nichts getan und ich bin ohne merklichen Schaden zu nehmen, entlaust worden.
Bewusst wähle ich diese Überschrift, weil ich mich nur an das Gebäude, nicht aber genau an eine darin tätige Person erinnern kann. Ich glaube, dass sie Ida hieß und nicht mehr die Jüngste war.
Die Krämerei lag nur wenige Schritte rechts vom Schulhaus, hatte kleine vergitterte Fenster und die Haustüre in der Mitte. Es dürfte sich bei dem Objekt um eines der ältesten des gesamten Ortes gehandelt haben. Da die Krämerei in Rufweite der Schule lag, durfte ich mich dort gefahrlos herumtreiben.
Durch die meist offene Haustüre gelangte man in das kleine, niedrige Vorhaus. Dort türmte sich an den Wänden, fein säuberlich getrennt, bäuerliches Wirtschaftsgerät auf: Rechen, Gabeln, Sensen, Sicheln, Werkzeug für die Feld- und Waldarbeit, Seile, Ketten usw. In Kopfhöhe lief rundum eine Ablage von einem halben Meter Breite, auf der sich Gegenstände aus Blech befanden: Schüsseln, Kannen, Kübel, Töpfe, alles von unterschiedlicher Farbe und Größe sogar teilweise ineinander gestapelt. Mit einem Wort, ein richtiges Durcheinander. Eine steile Holztreppe führte in das Obergeschoß, das zwei niedrige kleine Räume enthielt. In der Ecke hinter der Treppe stand das Petroleumfass mit einer Handpumpe. Die Tür zum Laden war mit einem Glöckchen versehen, das einen lauten Ton von sich gab und der Krämerin Kunden anzeigte, wenn sie sich in ihrem linksseitig gelegenen Privatbereich aufhielt.
Den Geruch, den das ganze Haus erfüllte, kann man nicht beschreiben. Es roch und stank gleichzeitig, je nachdem in welchem Bereich des Hauses man sich gerade aufhielt und in welcher Jahreszeit man anwesend war.
Das wichtigste Utensil im Laden war die quer zur Tür stehende Budel. Auf ihr spielte sich das gesamte Geschäftsleben ab. Eine entscheidende Rolle hatte bei den meisten Produkten das Gewicht.
Die Waage zeigte von beiden Seiten sichtbar das richtige Maß an. Fertig verpackte Ware kam praktisch nicht vor, alles wurde in Papiersäcken und Tüten eingewogen.
Über dem Ladentisch hing eine Krämerschlange aus Holz und von dieser wiederum Bänder und Schnüre sowie allerhand anderes Zeug herunter. Faszination löste bei mir der in der Deckplatte der Budel eingefräste Schlitz aus, durch den die Krämerin die eingenommenen Münzen fallen ließ.
Geregelte Öffnungszeiten gab es nicht. Am besten lief das Geschäft an einem Sonntag Vormittag. Nach der Frühmesse deckten die Frauen ihren Bedarf, dann kamen erst die Männer.
Wegen des Krieges wurden die am Kirchenplatz stehenden diskutierenden Gruppen immer kleiner.
Für die Männer hielt die Krämerin Rauchwaren unterschiedlichster Art bereit, da sie auch über eine Tabakverschleißstelle verfügte, wie ein Schild an der Außenwand des Hauses anzeigte. Durch den Kriegsverlauf machte sich auch in unserem Ort der Lebensmittelmangel bemerkbar. Bei den Einheimischen hatte das keine so große Bedeutung, wie bei der zunehmenden Zahl an Evakuierten und Flüchtlingen.
Aus Sorge um ihren schwer kranken Vater fuhr die Mutter mit uns Kindern während des Krieges gelegentlich mit Sack und Pack nach Steyr. Dafür benötigten wir von Vorderstoder bis zum Bahnhof nach Roßleithen ein Pferdegespann. Die Mutter sagte zum Fuhrmann: „Das ist wie der Auszug der heiligen Familie aus Ägypten.“ Zunächst ging es mit der Phyrnbahn bis nach Klaus. Dort stiegen wir in die Steyrtalbahn um. Am Steyrer Lokalbahnhof erwartete uns die Großmutter.
Ich wurde aus Sicherheitsgründen und wegen der schwierigen Ernährungslage in die Bahnhofstraße zu Oma und Opa verfrachtet, während sich meine Mutter mit dem Bruder bei ihren Eltern in der Grillparzerstraße einquartierte.
Wenn in Steyr die Sirenen heulten, öffneten die Leute wegen des bei einem Bombenangriff entstehenden Luftdrucks alle Fenster und liefen mit einem das Nötigste beinhaltenden Rucksack oder Koffer in den zugewiesenen Schutzraum.
Für die Bahnhofstraße war dies jener unter dem Schloss Lamberg mit dem Eingang an der Steyr kurz vor ihrem Zusammenfluss mit der Enns.
Die Oma verpasste mir einen kleinen Rucksack, der Leibwäsche enthielt. So bepackt liefen wir gemeinsam die Bahnhofstraße hinunter, über die Ennsbrücke dem aus dem Konglomeratfelsen herausgebrochenen Keller entgegen.
In der ersten Stunde unseres Aufenthaltes brannte dort noch die elektrische Deckenbeleuchtung. Diese fiel allerdings bald aus, es wurde stockdunkel und die Gespräche verstummten zu einem Gemurmel. Nach einem für mich nicht mehr nachvollziehbaren Zeitraum entzündete jemand eine Kerze, die den Gang, in dem wir auf Bänken saßen, ein wenig erhellte. Wieder nach einer Weile bemerkte ich, dass eine Frau einen Brotlaib auspackte und mit einem Messer Stücke davon abschnitt. Ich bekam auch eines und verspeiste es auf Anraten der Oma langsam kauend.
Später nahm das Gerede wieder zu, weil durchsickerte, dass Steyr mit seiner Kriegsindustrie das Ziel feindlicher Angriffe gewesen sei. Auf dem Weg zurück in die Bahnhofstraße sahen wir, dass ein Nachbarhaus einen Treffer abbekommen hatte und bei uns eine Menge Fensterscheiben kaputt gegangen waren.
Der Opa war aufgrund seines Alters, er war damals ca. 57, kein Soldat, allerdings gehörte er dem in Zivil dienenden Volkssturm an, der die Steyrer Brücken bewachen musste. Ich durfte ihm bei der Reparatur der Fensterscheiben helfen. Glas gab es in Steyr längst nicht mehr zu kaufen. Opa schnitt Karton zu und setzte ihn statt der Scheiben in die Rahmen. Mit meinen kleinen Fingern reichte ich ihm die Nägel, die er zur Befestigung des Kartons brauchte.
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