Freitag, 19. November 2021

Erinnerungen an 1943 bis 1947 - Teil 11

Steyr

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.

Die Wiederverwertung

In der Nachkriegszeit herrschte praktisch Mangel an allem. Daher wurde auch nichts weggeworfen und bei jedem Gegenstand die Benützungsdauer bis zur Unbrauchbarkeit hinausgeschoben. Das betraf Kleidung und Schuhe genauso wie Werkzeug und technische Geräte. Allen Dingen widmete man aus Sorge um die Wiederbeschaffung große Sorgfalt. Gebrauchtes hatte einen hohen Stellenwert und wurde immer wieder weitergegeben. Passgenauigkeit, Herkunft und Qualität der Waren spielten eine untergeordnete Rolle. Abnehmer fanden sich immer. Geflicktes und Gestopftes wurde als notwendig und nicht abwertend empfunden.
Wer, wie unsere Mutter, eine Nähmaschine besaß und es verstand, damit umzugehen, konnte sich glücklich schätzen und für den Eigenbedarf und gegen Entgelt für andere arbeiten. Die begehrtesten Stoffe stammten damals von den Offiziersuniformen der Deutschen Wehrmacht. Sie hatten eine hohe Qualität und boten zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten. Bevor sie allerdings einer zweiten Nutzung zugeführt werden konnten, musste man sie zunächst fein säuberlich auftrennen, dann waschen, allenfalls wenden und färben.
Nachdem ich mich bei einigen Reststücken als verwendbar erwies, durfte ich mit einer Rasierklinge bei der Zerteilung helfen. Diese Tätigkeit machte mir Freude, weil es dabei auf Genauigkeit und Ausdauer ankam. Stundenlang beschäftigte ich mich damit, Schneider wollte ich aber nie werden. Nur die Futterstoffe mochte ich nicht, weil sie sich komisch anfühlten und leicht durch die Finger rutschten.
In dieser Zeit standen noch die Kniebundhosen, Knickerbocker genannt, hoch im Kurs. Die Mutter nähte mir aus einem Mantelstoff für die kalte Jahreszeit eine, die ich mehrere Jahre verwendete, weil sie gleichsam mit mir mitwuchs.

Der 1. Mai

Nach vier Jahren Austrofaschismus zwischen 1934 und 1938 und der Nazi-Diktatur von 1938-1945 erlangte gerade in Steyr in den ersten Nachkriegsjahren der 1. Mai als Festtag der Arbeiterschaft wieder besondere Bedeutung.

Schon am frühen Morgen strömte aus verschiedenen Richtungen kommende Blasmusik in die Wohnung. „Das ist der Weckruf“, sagte der Opa, „damit die Leute aus den Stadtteilen bei den einzelnen Sammelplätzen zusammenkommen.“ Er holte seinen besseren Anzug aus dem Kasten und nach dem Frühstück gingen wir in die Bahnhofstraße hinunter, wo bereits reges Treiben herrschte. Die Leute standen in Gruppen um Fahnenträger beisammen, Funktionäre verteilten Flugblätter und ältere Frauen verkauften kleine rote Nelken aus Papier, die sie selbst angefertigt hatten. Besonders beeindruckten mich die von Jugendlichen geschmückten Fahrräder, die sich zwischen die Leute schlängelten. Sie hatten in die Speichen rote und weiße Bänder aus Krepppapier geflochten.
„Gehen wir auf den Stadtplatz“, meinte der Opa, „dort treffen dann die aus mehreren Seiten einmarschierenden Gruppen zur großen Kundgebung zusammen“.
Von dem, was über Lautsprecher auf mich eindrang, verstand ich gar nichts. Mit einem derartigen Rummel kam ich nicht zurecht. Nach dem allgemeinen im Chor gesungenen „Lied der Arbeit“ löste sich die Kundgebung rasch auf, nur einige Gruppen blieben stehen, weil sie hören wollten, was die Kommunisten, die im Anschluss an die Sozialdemokraten mit einem Aufmarsch demonstrierten, zu melden hätten.
„Opa“, sagte ich, „da ist ein Würstlstand, da riecht es gut“. „Das ist nichts für uns, Würstl isst man nicht auf der Straße, sondern daheim“, antwortete der Opa knapp. „Eventuell macht uns die Oma einmal welche“.
Der Aufmarsch der Kommunisten unterschied sich von den Teilnehmern her gesehen nicht wesentlich von jener der Sozialdemokraten, nur dass er zentral über die Bahnhofstraße, die Enns und die Enge Gasse auf den Stadtplatz führte. „Hören wir uns an, was der Onkel Lois als einer der Redner von der Tribüne vor dem Rathaus aus sagen wird“, meinte der Opa. „Er wird sicher die Vorzüge der Sowjetunion hervorheben“.
Es dauerte nicht lange, bis die am Stadtplatz verbliebenen Sozialdemokraten bei der Rede des Onkel Lois zu skandieren begannen. „Verräter“! „Warum bist wieda kemma, wanns eh dort in Russland so schen is“ ….
Mir war das alles fremd und ich begann mich zu fürchten, noch dazu, weil mir um den Onkel, den ich an sich mochte, Angst und Bang wurde. Ich drängte zum Heimweg, den ich zusammen mit dem Opa antrat. Unterwegs war ich ganz still, denn der Opa führte halblaut Selbstgespräche. Als ich einmal eine Frage stellte, blieb diese unbeantwortet, wie viele andere, von denen ich immer wieder hörte, „das ist nichts für dich“, „dazu bist du noch zu klein“, „das erfährst du alles einmal später, wenn du größer bist und die Zusammenhänge erkennen kannst“.

Alltägliches 1947

Es war wirklich kein schöner Herbst in diesem Jahr. Drei Monate waren erst seit dem Begräbnis meines Vaters vergangen. Der Oma ging es dementsprechend schlecht, sie weinte dauernd. Sie hatte den einzigen Sohn, der nur 36 Jahre alt wurde verloren, der den Krieg und die Gefangenschaft wohlbehalten überstanden und eigentlich leichtsinnig im Toten Gebirge starb.
Der Opa zeichnete in seiner Freizeit an seinem Traumhaus herum und machte dazu Entwürfe, wohlwissend, dass er seine Ideen nie in die Tat würde umsetzen können.
In Steyr beschäftigte man sich mit dem Wiederaufbau der zerbombten Häuser und verwertete aus den Ruinen alles Brauchbare. Die Ziegel wurden des anhaftenden Mörtels entledigt und zu Haufen gestapelt. Diese Arbeit besorgten hauptsächlich Frauen.
Auf meinem täglichen Schulweg über die Ennsbrücke studierte ich das zuhauf in den Fluss geworfene Kriegsmaterial. Mitunter blieben Erwachsene stehen und erklärten mir die einzelnen Teile. Oft war die Enns so schmutzig, dass man nicht bis zum Grund sehen konnte. Verursacht wurde das durch den Kraftwerksbau an ihrem Oberlauf.
Probleme hatte ich mit den Schuhen. Sie waren entweder zu klein oder zu groß und stammten alle von den Erwachsenen. Zum Glück hatte die Tante Herta, die Schwester meines Vaters kleine Füße. Ihre Schuhe konnte ich zeitweise tragen, wenn der Opa die Absätze kürzte. An Oberbekleidung fehlte mir nichts, da die Mutter mit ihrem Talent für die Schneiderei immer wieder Abhilfe schaffen konnte. Ansprüche und Begehrlichkeiten im heutigen Sinn lagen weit außerhalb meiner damaligen Vorstellungswelt. Bereits Getragenes oder Verwendetes wechselte oft mehrmals ohne Murren den Besitzer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen