Freitag, 12. August 2016

Die Geschichte von Jakob, dem Tannenhäher

Aus der Erinnerung eines Schulmädchens:
In den 1930er Jahren als ich noch ein Schulmädchen war und in einem kleinen Stodertaler Bauernhaus aufwuchs, kam einmal ganz plötzlich ein Tannenhäher, ein wunderschöner Vogel mit prächtigem Gefieder, in unsere Familie.
Edi, ein Nachbarsbub, hat mit seiner Steinschleuder auf den Vogel geschossen und ihn verletzt. Da er nichts mit ihm anzufangen wußte, brachte er ihn zu uns. Ich nahm ihn in die Hand und der Vogel schaute mich  mit seinen großen, hellbraunen Augen neugierig an. Er hatte ein prachtvolles Gefieder mit runden weißen Flecken, das aussah als wäre es mit Tränen beträufelt. Ich nannte ihn "Jakob". Er gewann sogleich mein Herz. Die Nuß, die ich ihm in den großen Schnabel steckte, nahm er ohne zu zögern an. Das Vertrauen, das er mir vom ersten Augenblick an schenkte war großartig.
Bald fanden wir heraus, daß ein Flügel gebrochen war. Ich fragte Edi warum er denn auf ihn geschossen hat?  Er sagte nur, ja weil er so keck dagesessen ist. Er fiel zur Erde und hat sich im Gestrüpp verkrochen. Deshalb war es keine Mühe ihn einzufangen. In der Freiheit wäre er verloren gewesen. Wir gaben ihn in einen Käfig, in dem früher ein Zeisig war ehe den unsere Katze gefressen hat. Darin waren Leitersprossen und ein Futterschüsselchen. Aber Jakob sprang ruhelos die Sprossen auf und ab. Wenn er oben war schlug er mit seinem unverletzten Flügel und wollte immer noch höher hinauf. Der Käfig war ihm zu klein. Das durchdringende Krächzen, das er ausstieß schnitt mir durchs Herz. Es war in der Stube furchtbar anzuhören. Aber schon nach ein paar Tagen hat er sich an uns gewöhnt. Dass er sehr litt war kein Zweifel, aber er fühlte dass wir es gut mit ihm meinten. Er wurde immer anhänglicher und zutraulicher. Wir sammelten für ihn Zirbelnüsse, die er lieber als Haselnüsse hatte. Jakob wollte immer seine Nüsse verstecken. Wir legten für ihn Zeitungsblätter auf das Fensterbrett damit er die Nüsse darunter verstecken konnte. Er verstreute die Nüsse im ganzen Zimmer und das Reinigen der Stube, vor allem in seiner Ecke, war ziemlich viel Arbeit. Oft  klopfte er ungeduldig an die Fensterscheibe und stieß ruhelos Schreie aus. Dazwischen aber kamen unvermutet ein paar leise verhaltene Töne aus seinem Schnabel. Bruchstücke eines stillen Gesangs oder Selbstgespräches, das aber bald wieder in schrilles Krächzen umschlug. Dort wo er gerne saß hatte er einen schönen Ausblick auf die Berge und über das Tal. Oft saß er da, schaute auf die großen Tannenbäume und fing selbstvergessen in seinen unterdrückten Tönen an mit sich selbst zu plaudern. Er hatte sein Schicksal angenommen. Die Heilung schritt voran, aber seinen gebrochenen Flügel konnte er nicht mehr gebrauchen. Wir haben ihn mit Faschen eingewickelt und mit "Ehrenhöfer" Heilsalbe eingerieben. Ein Teil seines Flügels war abgestorben und eines Tages biss er diesen Teil des Flügels selbst samt den Federn ab. Fliegen konnte er nicht mehr und wir überlegten wie wir ihm helfen könnten.
Inzwischen war die Obsternte und wir nahmen ihn öfters mit hinaus. Er saß dann auf einem Apfelbaum und sonnte sich in den letzten warmen Herbststrahlen. Er blieb immer in meiner Nähe, denn bei mir fühlte er sich geborgen. Als einmal die Katze um den Baum strich auf dem er saß, schrie er ganz jämmerlich. Ich ging gleich zu ihm und sofort war er wieder ruhig. Einmal saß er auf meinem Unterarm, als eine Erschütterung durch seinen Körper ging. Ich nahm an, es wurde ihm seine Freiheit bewußt, die er bekam. Als er einmal lautlos seinen Schnabel öffnete schaute er mich ganz traurig an, als wollte er über die Menschen klagen, die ihn zum Krüppel gemacht haben. Der Anblick berührte mich so, daß ich weinen mußte.
Der Oktober ging zu Ende und wir wußten nicht was wir mit ihm anfangen sollten. Meistens saß er draußen auf der Hollerstaude auf der er sich schon sehr heimisch fühlte.
Eines Tages kam unsere Tante Rosa aus Wien zu Besuch. Sie meinte das Beste wäre den Jakob nach Wien in den Tiergarten mitzunehmen. Sie brachte ihn dort in die Vogelhalle wo schon drei Tannenhäher waren. Rosa schrieb dass es Jakob gut geht, weil er unter Seinesgleichen war. Sie besuchte ihn dort auch öfters. Aber als sie ihn das letzte Mal besuchte kam sie ganz niedergeschlagen zurück. Sie schrieb in einem Brief, daß Jakob nach dem Füttern eingeschlafen ist und am Morgen ist er nicht mehr aufgestanden .Sein Fuß war gelähmt und er konnte nicht mehr aufstehen. In der Kanzlei des Tiergartens war man einverstanden Jakob zurückzugeben, denn sein Fuß hing wie ein geknicktes Blatt herunter. Tante Rosa brachte ihn wieder zu uns zurück nach Hinterstoder. Als er mich sah und ich seinen Namen rief humpelte er mir, so gut es ging entgegen. Man merkte sofort, er fühlte sich wieder zuhause. Er kannte seinen Platz in der Stube und auf seiner Hollerstaude. Bald fand er auch die Schachtel aus der er immer die Mehlwürmer bekam und begann hungrig zu fressen. Ich glaube, daß die Tannenhäher in der Vogelhalle, in deren Gesellschaft er sich befand, ihm als zusätzlichen Mitesser das Futter streitig gemacht haben. Vielleicht wollten sie auch keinen verletzten Vogel in ihrer Nähe dulden, denn die neue Verwundung rührte von einem schweren Schnabelhieb her, Mit "Ehrenhöfer"-Wundsalbe ist die Verletzung wieder zugeheilt. Ich habe ihn in eine Decke eingewickelt und ihm eine Kette aus Krenscheiben um den Hals gelegt. Das hat Mutter mit uns Kindern auch gemacht, wenn wir krank waren. Dann habe ich ihn zu mir  in das Bett gelegt. Er ist ganz still liegen geblieben. Als ich am nächsten Morgen aufwachte erschrak ich so sehr, daß mir das Herz bis zum Hals klopfte. Jakob den ich vorsichtig in die Hand nahm war er so leicht wie eine Feder  und ganz matt. Er fraß noch ein paar Zirbelnüsse, doch dann konnte er mit dem Schnabel nicht mehr fest zubeißen. Ich habe ihn dann in ein Kistchen auf ein Strohlager gebettet. Am nächsten Morgen schüttelte ihn wiederholt ein inneres Zittern. Er richtete sich noch einmal auf als wollte er noch etwas sagen, öffnete leicht den Schnabel und starb.

Meine Geschwister und ich begruben ihn unter seiner Hollunderstaude und bedeckten ihn mit einem Strauß Enzian. Ich war ganz verzagt, heulte wie ein geschlagener Hund  und konnte vor Trauer zwei Tage lang kein Essen anrühren.

      

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