Alljährlich zur Weihnachtszeit ließ unser Lehrer einige
Körbe Äpfel in das Klassenzimmer bringen. Um diese Äpfel gab es unter den
Schülern jeweils eine lustige Rauferei und der Lehrer stand lächelnd dabei und
achtete dass niemand zu tatkräftig wurde. An dieser Spende war an und für sich
nichts aus- zusetzten, nur wollte mir in der Erinnerung die Art der Verteilung
nicht ganz gerecht erscheinen, denn der Fleißigste in der Klasse war meistens
nicht der Stärkste und bekam deshalb nicht die schönsten Äpfel. Daran musste
ich denken, als ich vor einiger Zeit den alten Lehrer, der längst im Ruhestand
war, wieder sah.
"Ja", sagte der Alte mit vielsagendem Lächeln,
"mir geht es gut; und ihnen lieber Müller? Hoffentlich ist ihnen der
Mangel an Konzentration, den ich leider immer wieder bei ihnen feststellen musste,
nicht weiter hinderlich gewesen...?"
"Ich musste gerade an die Weihnachtsäpfel denken, die
Sie uns damals bescherten", bog ich das Gespräch in andere Pfade.
"Ach, die Weihnachtsäpfel", erwiderte schmunzelnd
der Alte und fuhr sich mit der Hand durch den weißen Bart. "Das war für
mich jeweils ein interessantes Experiment. In diesem Apfelkorb schieden
sich die Furchtlosen von den Ängstlichen, die Draufgänger von den Behutsamen, den Sanftmütigen und den Listigen, die Bescheidenen von denen die die Ellbogen
einsetzten. Charaktere werden geboren, aber ich konnte die Erbanlagen zu
beeinflussen versuchen. Ich konnte die Furchtsamen ermutigen, ihr
Selbstvertrauen stärken und den Tatendrang
der Allzustürmischen in die rechte Bahn zu lenken versuchen."
"Der starke Scholz hatte die meisten Äpfel",
wendete ich ein.
"Ja", sagte nickend der Lehrer, aber der kleine
Schmitz hat sie ihm nachher auf dem Schulhof gegen ein paar wertlose
Briefmarken abgeluchst. Er ist ins Bankfach gegangen der kleine Schmitz und hat
Karriere gemacht. Der dicke Karl Weiß, der die Äpfel gleich alle verzehrte, hat
das Geschäft von seinem Vater übernommen. Und wie geht es nun Ihnen, lieber Müller,
was sind sie nun eigentlich geworden?"
"Ich bin noch nichts", entgegnete ich,
"aber..."
"Na, sehn Sie", unterbrach er mich, mangelnde
Konzentration, immer in "Wolkenkukuksheim", ich sagte es ihnen damals
schon. Sie überlegten auch damals am Apfelkorb zu lange die rechte
Angriffstaktik..."
"...aber ich bin im Urlaub hier", fuhr ich fort,
"ich habe soeben meine Prüfung bestanden und kann nun Lehrer werden -
und
das Experiment mit den Äpfeln werde ich mir wohl merken".
"Alpenländische Rundschau" 24. Dezember 1942 Bernd Berg
"Alpenländische Rundschau" 24. Dezember 1942 Bernd Berg
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