Freitag, 23. Dezember 2022

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

In der Zeitschrift "Die Glühlichter" 1898 konnte man folgende Weihnachtsgeschichte lesen.  Der Artikel wurden etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.



Wachsfiguren Kabinett,    Verhaftung des Mädchenmörders Hugo Schenk,    Verhaftung von Ravachol.

Die Glühlichter, 22. Dezember 1898
Niemand, der mich kennt, wird mir den Vorwurf unverantwortlicher Aufschneiderei machen, wenn ich behaupte, dass ich mit den höchsten Herrschaften, wie Grafen, Prinzen und Königen und berühmten Mätressen, aber auch mit gehenkten Raubmördern, Giftmischern, Engelmacherinnen, Nihilisten und ähnlich angenehmen Menschen durch meinen Beruf in sehr enge Berührung komme. Dabei bin ich weder Ministerpräsident, noch Kammerdiener, noch selber ein Gauner, auch nicht etwa alles in einer Person, sondern ein schlichter Aufseher mit Pensionsberechtigung im Panoptikum.
Im Laufe der Jahre machte ich so die merkwürdigsten Bekanntschaften. Das Gegenteil wäre auch ein Wunder gewesen. Die feinsten Raubmörder kamen direkt vom Galgen zu mir und logierten sich bei mir ein, um hier ihr besseres Jenseits abzusitzen. Kaiser Alexander der Zweite klopfte gleich, nachdem ihm die Bombe der Nihilisten beide Beine zerschmettert hatte, an mein Tor und ging nicht wieder fort. Das Ehepaar Schneider, die Herren Hugo Schenk (Mädchenmörder) und Karl Schlossarek, Monsieur Ravachol (französischer Anarchist) gaben gleich nach ihrer Hinrichtung ihre Karten bei mir ab und bestellten ein Gesellschaftszimmer. Fürst Bismarck und Pfarrer Kneipp, General Boulanger und Frau Walter beeilten sich, meinetwegen von ihren Totenbetten aufzustehen. Selbst längst Verstorbene, wie die Königin Maria Stuart, Friedrich Schiller, die Kaiserin Katharina von Russland, die Jungfrau von Orleans und die Marquise Pompadour, scheuten die weite Reise nicht.
Fürwahr, manchmal komme ich mir vor wie der leibhaftige Petrus, wenn ich so, würdevoll mit dem Schlüsselbund rasselnd, durch die Gemächer schreite. Aufnahmebedingung für die armen Seelen ist nur ein berühmter Name, einerlei durch welche Schufterei oder edle Tat erworben. Selbstverständlich sind in meiner Gesellschaft die Rangunterschiede von ehedem streng gewahrt und es ist zum Beispiel dafür gesorgt, dass der Schah von Persien, Nasr-Eddin und der Kommis Dolezal, je einen separierten Eingang besitzen. Wir fürchten uns zwar vor keinem Attentat mehr, so einen Kerl würden wir sofort aus dem Katalog streichen, aber der Schah von Persien ist nun einmal an bessere Umgebung gewöhnt. Die Kaiserin von China hat neulich die Gelbsucht nebst einen Sprung im Nasenbein gekriegt, weil sie vierzehn Tage lang der Prinzessin Chimay gegenüber sitzen musste.
Und das war doch eine Prinzessin. Sie werden alle freilich mit gleicher Fürsorge behandelt. Da gibt's keine Verzärtelung. Unlängst habe ich sogar dem Fürsten Bismarck die Augen des mährischen Räubers Grasl eingesetzt, weil seine eigenen wackelig wurden und seitdem schaut der Fürst Bismarck mit den Augen des großen Räubers in die Welt.
Was ich jedoch nicht verhindern konnte, das war eine ebenso unangenehme wie lehrreiche Affaire. Plötzlich verliebte sich die Kaiserin Katharina in den Lakai des Großmoguls von den Molukken-Inseln. Jeden Morgen fand ich sie um zehn Zoll einander näher gerückt, obgleich ich sie am Abend vorher um zwanzig zurückgeschoben hatte. Mir schwante ein böses Ende. Eine Kaiserin in einen Kutscher verliebt, das durfte nach göttlichen und menschlichen Gesetzen nimmer geschehen. Indes, die Liebe ist bekanntlich stärker als zehn Vorhangschlösser und eines Morgens war die Leidenschaft Ihrer Majestät so hitzig geworden, dass sie dem Kutscher ein Stelldichein bewilligte. Den Flammen der Liebe war jedoch ihre Körperbeschaffenheit nicht gewachsen und so begannen beide, an ihrem eigenen Feuer „wie Wachs" zu zerschmelzen. Wie ich am selbigen Vormittag in das Lokal trete, sehe ich eine formlose Wachsmasse vor mir am Boden. „Im Tode vereint" hätte ich die Gruppe nennen mögen, wenn es halbwegs eine Gruppe gewesen wäre. Aber es war nur ein plumper, unkenntlicher Klumpen, in den die Beiden zusammengesunken waren. Wahrscheinlich hat auch die Wärme der Heizung mitgeholfen. Ich habe das sündige Liebespaar, das seine unselige Leidenschaft so grässlich büßen musste, in zweihundert Kerzen ausziehen lassen und damit meinen Weihnachtsbaum geschmückt.
So gelang es mir, mit Hilfe des gütigen Schicksals ein geruchloses Feuer in zweihundert unschuldige und fromme Flämmchen zu verwandeln. Amen.

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