Eine alte Weihnachtsgeschichte aus der Zeitschrift "Neue Glühlichter" aus dem Jahre 1906, die nachdenklich stimmt.
Manche Textpassagen wurden leicht verändert und der Zeit angepasst.
Jeder kennt den Weihnachtsengel. Wir meinen nicht den gold-papierenen, der auf der höchsten Spitze des Weihnachtsbaumes befestigt wird und
am heiligen Abend so holdselig auf die beschenkten Kinder herabschaut. Wir
meinen den lebendigen Weihnachtsengel, der in Gestalt einer weichherzigen
reichen Frau oder einer wohlhabenden Fabrikantentochter, am heiligen
Abend kranke, hungernde und frierende Kinder reich beschenkt und ihr
barmherziges Wesen zeigt. Dieses engelgleiche Wesen spielt in der
Weihnachtsliteratur eine besondere Rolle
und wir können keine Zeitung und kein Geschichtenbuch zur Hand nehmen ohne
seine beglückende Bekanntschaft zu machen.
Es war also kein Wunder, dass auch der kleine Franzl den
Weihnachtsengel kannte. Er kannte die Geschichte aus den Resten eines alten
Kalenders aus dem er gelesen hatte ehe er ihn in den Ofen steckte. Denn in der
kleinen Kammer, in der Franzl mit seiner kranken Mutter und zwei jüngeren
Geschwistern wohnte, war es trotz der vielen warmherzigen Menschen, die am
heiligen Abend herumlaufen, bitter kalt. Die Kalenderreste mit der rührenden
Weihnachtsgeschichte waren das letzte brennbare Material gewesen, das Franzl
gefunden hatte. Die Geschichte brannte noch hell in dem alten Ofen, gab aber
verdammt wenig Wärme. Das bewog Franzl nachzudenken wie und wo er Heizmaterial
und vielleicht auch Brot auftreiben könne. Der Vater war tot und so war es seine
Pflicht für die Familie zu sorgen. Nach kurzem Nachdenken setzte Franzl seine Mütze
auf und ging. Wohin wusste er nicht recht. Die Hände in den durchlöcherten
Hosentaschen steckend trabte er durch die Gassen. Bald gab er das Traben auf
und fing zu galoppieren an. Bewegung ist das billigste Heizmaterial. Er machte
erst Halt als er in eine belebte Gasse einbiegend mit dem Kopf gegen den Bauch
einer fein gekleideten Dame stieß. Franzl stand erschrocken da. Die Dame
schimpfte mit dem rücksichtslosen Bengel. Seine Verlegenheit und sein ärmliches
Aussehen änderten jedoch ihren Unmut.
"Wo läufst du denn hin?" fragte sie.
"Ich Nirgends", antwortete Franzl.
"Und da hast du es so eilig?"
"Ja, weil mich friert."
"Armer Kerl! Komm` mit mir. Du sollst nicht umsonst auf
mich gestoßen sein."
Die Dame ging weiter und Franzl ging zaghaft und doch ein bisschen
hoffnungsfreudig neben ihr her. Die rührende Kalendergeschichte, die er vorhin
gelesen hatte, fiel ihm wieder ein.
Während des Gehens fragte die Dame nach seinen Verhältnissen
und aus ihren Fragen klang immer mehr Rührung. Endlich trat sie in ein
Delikatessengeschäft und ließ Franzl vor der Tür warten. Als sie herauskam, gab sie ihm ein schweres Paket und forderte ihn auf, weiter mitzukommen. Mit
glückstrahlenden Blicken folgte ihr der Junge. Beim nächsten Zuckerbäcker wurde
wieder eingekehrt. Aus seinem Laden holte die gütige Dame ein noch größeres
Paket heraus und übergab es dem armen Franzl. Der Vorgang wiederholte sich noch
bei einem Spielzeuggeschäft und bei einem Kleiderladen, so dass Franzl
schließlich vier umfangreiche, gewichtige Pakete zu tragen hatte. Der gütigen
Dame schien das noch nicht genug zu sein. Denn sie entließ Franzl noch immer
nicht mit seiner kostbaren Last, sondern trippelte weiter vor ihm her und ließ
ihn folgen. Franzl begann unter dem Gewicht seiner Bürde zu keuchen und zu stöhnen,
schritt jedoch tapfer hinter seiner Wohltäterin her.
In einer stillen vornehmen Gasse trat die Dame in ein
schönes Haus und stieg in den ersten Stock. Franzl immer hinter ihr her. Die
Dame klingelte an einer Tür. Ein Dienstmädchen machte auf und ließ sie und
Franzl eintreten. Sie waren im Vorzimmer einer eleganten Wohnung, das merkte Franzl.
Hier nahm ihm auf einen Wink der Dame das Dienstmädchen die Pakete ab. Hierauf
zog seine Wohltäterin ihr Portemonnaie aus der Tasche und drückte Franzl ein
Geldstück in die Hand.
"So Kleiner", sagte sie, "jetzt geh` heim und
kauf dir etwas Warmes!"`
Franzl begriff nicht sofort. Er blieb stehen und machte ein
dummes Gesicht. Das Dienstmädchen öffnete jedoch die Tür und lud ihn mit einer
Handbewegung ein, sich zu drücken. Mit einem schmerzlichen Blick nach den
Paketen, die er der Dame so weit nachgeschleppt hatte, in der Hoffnung sie
gehören ihm, schlich sich Franzl hinaus. Draußen sah er sich das Geldstück
näher an. Es war ein blitzblankes Zehnhellerstück. Voll Zorn zuckte ihm die
Hand. er wollte den armseligen Nickel der Spenderin vor die Tür werfen. Es fiel
ihm jedoch seine Mutter und seine Geschwister ein. Er behielt das
Zehnhellerstück und steckte es in die Hosentasche. Dann rannte er die Treppe
hinunter.
In der Nähe seiner Wohnung wollte er für die zehn Heller Brot kaufen. Er griff in die
Tasche - das Zehnhellerstück war nicht mehr darinnen. Aber das Loch durch das
er es verloren hatte, war noch in der Tasche, das fühlte er ganz deutlich. Und
noch etwas fühlte er. Es war die Gewissheit, dass die Wohltaten mancher Reicher
erst zehnmal verdient werden müssen und dann so nichtig sind, dass man sie
durch ein kleines Loch in der Tasche verlieren kann.
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