Freitag, 7. Dezember 2018

Der Weihnachtsengel

Eine alte Weihnachtsgeschichte aus der Zeitschrift "Neue Glühlichter" aus dem Jahre 1906, die nachdenklich stimmt.
Manche Textpassagen wurden leicht verändert und der Zeit angepasst.

Jeder kennt den Weihnachtsengel. Wir meinen nicht den gold-papierenen, der auf der höchsten Spitze des Weihnachtsbaumes befestigt wird und am heiligen Abend so holdselig auf die beschenkten Kinder herabschaut. Wir meinen den lebendigen Weihnachtsengel, der in Gestalt einer weichherzigen reichen Frau oder einer wohlhabenden Fabrikantentochter, am heiligen Abend kranke, hungernde und frierende Kinder reich beschenkt und ihr barmherziges Wesen zeigt. Dieses engelgleiche Wesen spielt in der Weihnachtsliteratur eine besondere  Rolle und wir können keine Zeitung und kein Geschichtenbuch zur Hand nehmen ohne seine beglückende Bekanntschaft zu machen.

Es war also kein Wunder, dass auch der kleine Franzl den Weihnachtsengel kannte. Er kannte die Geschichte aus den Resten eines alten Kalenders aus dem er gelesen hatte ehe er ihn in den Ofen steckte. Denn in der kleinen Kammer, in der Franzl mit seiner kranken Mutter und zwei jüngeren Geschwistern wohnte, war es trotz der vielen warmherzigen Menschen, die am heiligen Abend herumlaufen, bitter kalt. Die Kalenderreste mit der rührenden Weihnachtsgeschichte waren das letzte brennbare Material gewesen, das Franzl gefunden hatte. Die Geschichte brannte noch hell in dem alten Ofen, gab aber verdammt wenig Wärme. Das bewog Franzl nachzudenken wie und wo er Heizmaterial und vielleicht auch Brot auftreiben könne. Der Vater war tot und so war es seine Pflicht für die Familie zu sorgen. Nach kurzem Nachdenken setzte Franzl seine Mütze auf und ging. Wohin wusste er nicht recht. Die Hände in den durchlöcherten Hosentaschen steckend trabte er durch die Gassen. Bald gab er das Traben auf und fing zu galoppieren an. Bewegung ist das billigste Heizmaterial. Er machte erst Halt als er in eine belebte Gasse einbiegend mit dem Kopf gegen den Bauch einer fein gekleideten Dame stieß. Franzl stand erschrocken da. Die Dame schimpfte mit dem rücksichtslosen Bengel. Seine Verlegenheit und sein ärmliches Aussehen änderten jedoch ihren Unmut.
"Wo läufst du denn hin?" fragte sie.
"Ich Nirgends", antwortete Franzl.
"Und da hast du es so eilig?"
"Ja, weil mich friert."
"Armer Kerl! Komm` mit mir. Du sollst nicht umsonst auf mich gestoßen sein."
Die Dame ging weiter und Franzl ging zaghaft und doch ein bisschen hoffnungsfreudig neben ihr her. Die rührende Kalendergeschichte, die er vorhin gelesen hatte, fiel ihm wieder ein.
Während des Gehens fragte die Dame nach seinen Verhältnissen und aus ihren Fragen klang immer mehr Rührung. Endlich trat sie in ein Delikatessengeschäft und ließ Franzl vor der Tür warten. Als sie herauskam, gab sie ihm ein schweres Paket und forderte ihn auf, weiter mitzukommen. Mit glückstrahlenden Blicken folgte ihr der Junge. Beim nächsten Zuckerbäcker wurde wieder eingekehrt. Aus seinem Laden holte die gütige Dame ein noch größeres Paket heraus und übergab es dem armen Franzl. Der Vorgang wiederholte sich noch bei einem Spielzeuggeschäft und bei einem Kleiderladen, so dass Franzl schließlich vier umfangreiche, gewichtige Pakete zu tragen hatte. Der gütigen Dame schien das noch nicht genug zu sein. Denn sie entließ Franzl noch immer nicht mit seiner kostbaren Last, sondern trippelte weiter vor ihm her und ließ ihn folgen. Franzl begann unter dem Gewicht seiner Bürde zu keuchen und zu stöhnen, schritt jedoch tapfer hinter seiner Wohltäterin her.
In einer stillen vornehmen Gasse trat die Dame in ein schönes Haus und stieg in den ersten Stock. Franzl immer hinter ihr her. Die Dame klingelte an einer Tür. Ein Dienstmädchen machte auf und ließ sie und Franzl eintreten. Sie waren im Vorzimmer einer eleganten Wohnung, das merkte Franzl. Hier nahm ihm auf einen Wink der Dame das Dienstmädchen die Pakete ab. Hierauf zog seine Wohltäterin ihr Portemonnaie aus der Tasche und drückte Franzl ein Geldstück in die Hand.
"So Kleiner", sagte sie, "jetzt geh` heim und kauf  dir etwas Warmes!"`
Franzl begriff nicht sofort. Er blieb stehen und machte ein dummes Gesicht. Das Dienstmädchen öffnete jedoch die Tür und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu drücken. Mit einem schmerzlichen Blick nach den Paketen, die er der Dame so weit nachgeschleppt hatte, in der Hoffnung sie gehören ihm, schlich sich Franzl hinaus. Draußen sah er sich das Geldstück näher an. Es war ein blitzblankes Zehnhellerstück. Voll Zorn zuckte ihm die Hand. er wollte den armseligen Nickel der Spenderin vor die Tür werfen. Es fiel ihm jedoch seine Mutter und seine Geschwister ein. Er behielt das Zehnhellerstück und steckte es in die Hosentasche. Dann rannte er die Treppe hinunter.
In der Nähe seiner Wohnung wollte er für die zehn Heller Brot kaufen. Er griff in die Tasche - das Zehnhellerstück war nicht mehr darinnen. Aber das Loch durch das er es verloren hatte, war noch in der Tasche, das fühlte er ganz deutlich. Und noch etwas fühlte er. Es war die Gewissheit, dass die Wohltaten mancher Reicher erst zehnmal verdient werden müssen und dann so nichtig sind, dass man sie durch ein kleines Loch in der Tasche verlieren kann.  



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