Freitag, 29. Juli 2022

Das Autogramm

In der Oberdonau-Zeitung am 17.1.1945 berichtete Johannes Schima von einer Begegnung mit dem berühmten Dichter Peter Rosegger.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Der Dichter Peter Rosegger, der sich in den Jugendjahren in seiner steirischen Heimat als Schneiderlehrling und nach seiner Freisprechung als Gehilfe mit Flickarbeiten auf oft entlegenen Bauernhöfen durchbrachte, war später zu Ehren, Ruhm und Geld gelangt und hatte in seiner Heimat Alpl bei Krieglach in der Steiermark auf seine Kosten eine Schule erbauen lassen und sich selber ein Zimmer vorbehalten, wo er seine Urlaube verbrachte und zeitweise Erholung vom Stadtleben suchte.
Und so weilte er wieder einmal in seiner geliebten Waldheimat, es war ein Sommersonntag und Rosegger befand sich ganz allein im Schulhause, da das Lehrer-Ehepaar, das seine Wohnung ebenfalls in der Schule hatte, ausgegangen war.
Er stand am Fenster und blickte interessiert hinaus, da er auf der Waldstraße einen Mann humpeln sah, der sich krampfhaft die Hüften hielt. Rosegger, der  dachte, der Mann hätte einen Gallenstein- oder Nierenanfall, rief hinaus: „Ja, was fehlt Ihnen denn?“ „Aber", entgegnete der Mann ein wenig grollend, „ich komme von Wien und war auf der Wanderung begriffen, da plötzlich tauchte ein Stier auf, der mich aufnehmen wollte. Und dieser wilde Teufel hat mich gehetzt, die Wiesen herunter, über Gräben und Hürden, über Hecken und Zäune, immer im sausenden Galopp. Zum Glück ist alles gut ausgegangen, nur dass mir gerade die zwei rückwärtigen Hosenknöpfe abgerissen sind, das ist das Fatale, denn wo nimm ich jetzt schnell Hosenknöpfe her?“
„Ach so!“ lachte der Dichter „deswegen halten Sie sich die Seiten. Bitte, kommen Sie ruhig herein, wir werden die Sache raschest auf gleich bringen.“
Der Mann, über die Liebenswürdigkeit freudig überrascht, folgte der Aufforderung und Rosegger, der gelernte Schneider, suchte zwei passende Knöpfe und nähte sie dem Mann an die Hose.
„Wo wollten Sie denn eigentlich hin?“ forschte der Dichter, als er fertig war. „Ich wollte nach Krieglach hinunter, um zu versuchen, von dem berühmten Peter Rosegger ein Autogramm zu erlangen." „Hahaha“, lachte Rosegger, „dieser Versuch wäre Ihnen gänzlich misslungen, weil Rosegger nicht zu Hause gewesen wäre. Aber erzählen Sie nichts weiter“, fuhr der Dichter zu dem erstaunten Mann fort, den plötzlich eine Ahnung durchzuckt haben mochte, „sein Autogramm haben Sie jetzt auf Ihrer Hose und das ist ein nützlicheres als eines am Papier!“

Peter Rosegger


Freitag, 22. Juli 2022

Sonderbare Geschichten und Anekdoten aus der Vergangenheit

"Mährisches Tagblatt" 15. April 1897 Grazer Tagblatt 31. März 1897

Wer entdeckte Amerika?

Der berühmte Humorist Mark Twain besuchte in Gesellschaft einiger Landsleute Italien. In Genua angelangt, bekam die Reisegruppe einen außerordentlich geschwätzigen Führer mit einem überströmenden Enthusiasmus. Mark Twain und seine Freunde spotteten darüber den Enthusiasmus ihres Führers nicht zu teilen und im Gegenteil die schönsten Aussichtspunkte und die wunderbarsten Kunstgegenstände, die er ihnen zeigte, erbärmlich zu finden.
Vor einer Auslage, die ein wertvolles Pergament barg, sagte der Führer mit einer von innerer Bewegung zitternden Stimme: „Meine Herren, ein Dokument von Christoph Columbus."— „Von wem?" fragte Twain kalt.— „Von Christoph Columbus." — „Christoph ... wie sagen Sie?"— „Christoph Columbus."— „Wer ist das, Christoph Columbus?“ „Aber, meine Herren, Christoph Columbus, der Entdecker Amerikas.
Mark Twain zuckte hierauf die Achsel und rief: „Amerika entdeckt? Es gäbe jemanden, der Amerika entdeckt hätte? Was ist denn das wieder für eine alte italienische Legende?" „Aber, mein Herr, das ist doch keine Legende, das ist doch verbürgte Geschichte.“ Twain wendete sich zu seinen Landsleuten um und fragte: „Haben Sie je von einem Italiener sprechen gehört, der Amerika entdeckt hätte? Und alle antworteten, ohne eine Miene zu verziehen: „Wir haben nie so etwas erzählen hören, selbst von den ältesten Ammen nicht!"— „Sie sehen wohl, mein lieber „Cicerone" (Fremdenführer) , sagte darauf Twain zu diesem, „dass Sie schlecht unterrichtet sind“. Meine Freunde und ich sind Amerikaner und wenn jemand Amerika entdeckt hätte, müssten wir es doch zuerst wissen". Und darauf das Pergament betrachtend, rief er aus: „Das soll ein Mann von dreißig Jahren geschrieben haben!
Wenn Sie nach Amerika kommen, werden wir Ihnen viel deutlicher geschriebene Schulhefte von achtjährigen Knaben zeigen, die wir aber nicht wie die Autographen (eigenhändige Niederschrift) dieses — wie nennen Sie ihn doch — Christoph Columbus öffentlich auslegen um sie den uns besuchenden Fremden zu zeigen wagen."

Kolumbus Handschrift

"Czernowitzer Tagblatt" 31. August 1905

Das gestörte Klavierkonzert

Einem Berliner Blatt wird eine lustige Anekdote von dem weltberühmten Pianisten Arthur Rubinstein aus Marienbad gemeldet: Rubinstein ist angekommen, wird von einer Schaar begeisterter Anhänger umringt und bestürmt, in die Tasten zu greifen. Bösendorfer hat umsichtig dem Meister gleich zwei Konzertflügel zur Verfügung gestellt. Im Victoria-Hotel war es, wenn ich mich recht erinnere. Rubinstein spielt, die Zuhörer schwimmen in Entzücken — da erscheint der Hotelkellner und überbringt Rubinstein eine Visitkarte. Sofort verstummen die Töne und Rubinstein macht das verdutzteste Gesicht. Die Visitenkarte trug den fein lithographierten Namen einer Dame, einer Frau L. und darunter mit Bleistift die wenigen klassischen Worte: „Ich bitte meine Nachtruhe nicht zu stören." Die Töne verstummten.

Tags darauf soll die Dame in recht trübseliger Stimmung abgereist sein, als sie erfuhr, wem sie ihre Karte geschickt hatte.

Arthur Rubinstein

Czernowitzer Tagblatt" 31.August 1905

Der Schah und der Spargel.


Die Europareise des Schahs von Persien erinnert den „Goulois" an eine hübsche Anekdote, die vor Jahren über den in mehr als einer Hinsicht originellen Nasr eddin, den Vater des jetzt regierenden Perserkaisers, erzählt wurde.
Als Nasr eddin seine erste Reise nach Europa machte, weilte er auch einige Tage in London; bei dieser Gelegenheit lud ihn der Prinz von Wales, jetzt Eduard VIl., zu einem Galaessen ein. Unter anderen köstlichen Gerichten gab es auch Spargel. Der Schah, der dieses Gemüse noch nie gesehen hatte, saß den dicken Stangen ratlos gegenüber, da er keine Ahnung hatte, wie so etwas zu essen sei. Endlich fasste er einen Entschluß: er nahm die erste Spargelstange, biss ihr den Kopf ab und .... warf den Rest hinter sich! Große Bestürzung der ganzen Tischgesellschaft und gut gespielte Ohnmachtsanfälle etlicher Hofdamen!
Der Prinz von Wales aber blieb kühl bis ins Herz hinein: mit einem Blick überschaute er die kritische Situation und beschloss, die Regeln unter allen Umständen zu wahren, um seinen Gast aus dem Morgenland keiner Blamage auszusetzen. In aller Gemütsruhe, als wäre das die allgemein übliche Art, Spargel zu essen, biss er den Stangen gleichfalls die Köpfe ab und warf das, was übrig blieb, auf den Fußboden.
Nun mussten natürlich auch die Hofschranzen tun, wie ihr Herr und Gebieter tat. Man kann sich denken, wie erstaunt die Dienerschaft war, als sie beim Betreten des Zimmers Dutzende von Spargelstangen durch die Luft fliegen sah!

Schah von Persien

Freitag, 15. Juli 2022

Ehrliche Geschichten, die sich seinerzeit genau so zugetragen haben

Das Prager Tagblatt vom 25.4.1882 und das Tagblatt vom 12.2.1927 erzählen seltsame Geschichten aus der Vergangenheit.
Die Artikel wurden etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.


Darwins Selbstbiographie.

„Ein Buchhändler belästigte den berühmten Naturforscher mit einem Gesuch um eine Autobiographie. Darwin erwiderte: „Sie können sie sogleich mitnehmen." Dabei übergab er ihm ein Papier, welches er soeben vor den Augen des Buchhändlers beschrieben hatte. Der also Beschenkte erschöpfte sich in Danksagungen und eilte davon. Als er, vor der Tür angekommen, in begreiflicher Neugier, das Blatt öffnete, fand er Folgendes darauf verzeichnet: „Ich heiße Charles Darwin, bin geboren 1809, studierte, machte eine Reise um die Welt, und studiere weiter."

Rache eines Ehemannes.

Die Gattin eines englischen Advokaten entfloh mit einem Leutnant. Ihren Gatten und ein Kind ließ sie zurück. Es gelang, die Spur der Flüchtlingen zu finden und auf telegrafische Anweisung wurde der Leutnant auf einem Bahnhof wegen Diebstahls verhaftet. Der Advokat Dr. Weddell machte nämlich in seiner Anzeige von der entführten Frau gar keine Erwähnung und seine Klage lautete einfach dahin, dass Leutnant Turner aus seinem Hause einen Damenkoffer im Wert von 20 Schilling und eine schwarzlederne Handtasche im Wert von 6 Schilling gestohlen und damit die Flucht ergriffen habe. Die erwähnten Gegenstände bildeten das Reisegepäck der treulosen Frau.


Nestroys Semmelkrieg.

Als die Alt-Wiener Bäckermeister beschlossen hatten, die Semmeln kleiner zu machen, erschien der berühmte Komiker Nestroy in einem Frack auf der Bühne, dessen Knöpfe durch Miniatursemmeln ersetzt waren. Darauf war große Aufregung in der Bäckergenossenschaft, die den Komiker gerichtlich belangte. Nestroy wurde tatsächlich zu 48 Stunden Arrest wegen Beleidigung eines ehrsamen Standes verurteilt. Als er nach Abbüßung seiner Strafe zum ersten mal wieder auftrat, ließ er sich von einem Gegenspieler fragen, wie es ihm denn im Gefängnis ergangen sei und ob er dort nicht Hunger erlitten hätte. „O nein," antwortete Nestroy, „die Tochter des Gefängniswärters, die in mich verliebt ist, schob mir immer Semmeln durch das Schlüsselloch zu."
Die Bäckergenossenschaft betrachtete sich als hinlänglich blamiert und unterließ es daher, noch weitere Debatten mit dem Komiker heraufzubeschwören.

Freitag, 8. Juli 2022

Der Narr der Dampfkraft

Das Pilsner Tagblatt vom 1. Juni 1935 berichtet vom tragischen Leben des Miterfinders  der Dampfkraft Salomon de Caus (geb.1576, gest.1626). Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Salomon de Caus

Lord Worcester kam einst nach Paris, um hier Sehenswürdigkeit der Seinestadt zu bewundern. Eine sehr geistreiche Dame, Marion de Lorme führte den englischen Aristokraten und hat uns in einem Brief eine sehr interessante Begegnung folgendermaßen geschildert:

„Wir gingen über den Hof des Irrenhauses und ich, mehr tot als lebendig vor Angst, hängte mich fest an den Marquis, als hinter einem Paar ungeheuerer Eisenstäbe ein schreckliches, schauderhaftes Gesicht erschien und eine rauhe Stimme rief: „Ich bin nicht toll, ich bin wahrlich nicht toll! Ich habe nur eine Entdeckung gemacht die jedes Land glücklich machen würde".
„Was hat er denn entdeckt?", fragte ich unseren Führer.— „O. nichts von Bedeutung". antwortete dieser und zuckte mit den Achseln. „Sie würden es in Ihrem ganzen Leben nicht erraten: die Verwendung des Dampfes von kochendem Wasser als Kraft. Tag und Nacht spricht er irre und rumort von dieser Dampfkraft". „Der Mann", fuhr der Wärter fort, „heißt Caus und kam vor vier Jahren aus der Normandie nach Paris, um dem König einen Bericht über die wunderbaren Wirkungen, die seine Erfindung hätte vorzutragen. „Caus meinte es ließen sich Wagen und Schiffe durch Dampf in Bewegung setzen. Mit einem Wort, es gibt kein Wunder das seiner Behauptung zufolge nicht hervorgebracht werden könnte. Auch Sr. Eminenz, dem Kardinal und Staatsminister Richelieu überreichte der Mann seine Abhandlung vom Dampf. „Der aber schickte den närrischen Normannen fort, ohne ihn anzuhören. Caus aber ließ sich nicht abschrecken sondern folgte dem Kardinal mit unermüdlicher Beharrlichkeit auf jedem Schritt und Tritt, bis der Herr Minister, seiner Tollheiten überdrüssig, den Befehl gab, ihn im Irrenhaus einzusperren, wo er sich nun seit 3 Jahren befindet und wie Sie eben gehört haben allen Fremden, die die Anstalt besuchen, zuruft, er sei nicht toll, sondern er habe eine große Erfindung gemacht".

Lord Worcester. der aufmerksam zugehört hatte, versank in tiefes Nachdenken und sagte schließlich:

„Der Mann ist gar nicht toll. In England wäre er statt eingekerkert zu werden, fürstlich belohnt worden. Laßt mich zu ihm. ich möchte ihn über einiges
 befragen". Der Lord wurde in die Zelle geführt, kam aber nach kurzer Zeit traurig und gedankenvoll zurück. „Ja, jetzt ist er allerdings toll", sagte er. „Die Gefangenschaft hat ihn seiner Vernunft beraubt aber seine Tollheit habt Ihr zu verantworten. Als Ihr ihn in diese Zelle gesperrt habt, habt ihr das größte Genie seiner Zeit eingesperrt und dem Elend Preis gegeben".

Frau de Lorme schließt ihren interessanten Bericht mit den Worten: „Wir gingen hierauf fort, doch hat Lord Worcester seitdem nichts anderes getan. als von Caus geredet".

Freitag, 1. Juli 2022

Brahms in Bologna

Im Bregenzer/Vorarlberger Tagblatt vom 12. Juni 1939 berichtet Hans Här eine Anekdote über Johannes Brahms in Bologna.
Der Artikel wurde etwas gekürzt und unserer Zeit angepasst.

Johannes Brahms (geb.1833, gest.1897)

An einem Sommertag vor fünfzig Jahren (ca.1890) war das Hotel zu den „Quatro Pellegrini" (Vier Pilger) in Bologna von ungewöhnlichem Leben erfüllt. Hier trafen sich Musiker aus allen Teilen Italiens, aber auch fremde Sprachen hörte man. Kunstbegeisterung einte alle Besucher, sie waren zur „Allgemeinen Musikausstellung" hierher gekommen.
Nun zeigten sich die bekannten Männer aus nah und fern. Ihre größte, fast scheue Verehrung galt dem stattlichen, silberbärtigen, gebürtigen Deutschen, der in Österreich lebte, der am Morgen angekommen und von Maestro Martucci, dem Direktor des Konservatoriums von Bologna, begrüßt worden war. Andächtig flüsterten sie sich den Namen des Mannes zu, der sogar jenseits des Ozeans berühmt war, nachdem er die Prüfungen harter Jugendjahre bestanden und den Weg zur Höhe erkämpft hatte: Johannes Brahms.
Sie beobachteten den lebhaften Italiener und den besinnlichen Brahms am Morgen, als Martucci den Gast durch einen nahen Park führte. Sie hätten gewiss vieles komisch empfunden, wenn sie nicht geahnt hätten, was da verhandelt wurde. Martucci, der kein Deutsch verstand, hatte mit Gebärden und Tönen „gesprochen", Brahms Melodien und Themen aus Sinfonien und kammermusikalischen Werken gesungen, gepfiffen und mit großen Armbewegungen begleitet und der Komponist hatte oft mit einem kräftigen Nicken des gewaltigen Kopfes zugestimmt. Die Besucher der Musikausstellung konnten Brahms auch beim Mittagsmahl im Speisesaal des Hotels begrüßen. Freilich hätten sie sich gewundert, wenn sie gehört hätten, was Brahms jetzt mit grimmigem Witz seinem Freund Wibmann zuflüsterte, dem schweizerischen Dichter, der neben ihm saß: „Dass Sie sich nicht verplappern"— Widmann kniff ein Auge zu: „Sie wissen, dass Sie sich auf mich verlassen können, gestrenger Meister!" Die beiden Freunde hatten ein schlimmes Geheimnis: Bis zu diesem Morgen hatten sie von einem „Allgemeinen Musikfest" in Bologna nichts gewusst. Ahnungslos waren sie — wie im vergangenen Jahr — in die Stadt gekommen, ahnungslos hatte sich der Deutsche plötzlich im Mittelpunkt einer Künstlerfeier gesehen. Wieder einmal — wie so oft in den letzten Jahren — war er in der vergangenen Woche aus Wien abgereist, das dem gebürtigen Hamburger zur zweiten Heimat wurde. Brahms fuhr gerne in den Süden und wählte Widmann, den klugen Freund, zum Begleiter. Besonders beglückend war die Liebe der Kinder, die Brahms überall besuchte. Sie war freilich nicht immer ganz selbstlos, weil der Komponist mit Münzen, Schokolade und Früchten recht freigebig umging. So wie ihm Wiener und Schweizer Kinder in Scharen nachliefen, hatte er auch in Italien rasch hundert kleine Freunde. In Venedig zeigten sie ihm Taucherkunststücke, in Rom sangen sie ihm kleine Lieder vor und wenn er dann mit einer Kutsche oder in einem Zug davonfuhr sahen sie ihm mit dunklen, traurigen Augen nach, wie wenn ihnen ein väterlicher Beschützer entrissen worden wäre. „Es ist schlimm!" stöhnte manchmal Brahms gespielt. „Ich bin hierzulande unheimlich bekannt!" Das hatte er nun auch in Bologna erfahren. Als ihn die Veranstalter der Ausstellung im Hotel erblickten, dachten sie, dass der Maestro gekommen sei, um ihr Fest mitzumachen. Johannes Brahms, der trotz manch' polternder Worte sehr zart empfand, hatte rasch erkannt, dass er ehrliche Liebhaber seiner Kunst vor sich hatte und entschloss sich, sie in ihrem guten Glauben von der Ursache seiner Anwesenheit nicht zu enttäuschen. So saßen die beiden Erholungsreisenden beim Festmahl als Mittelpunkt der Feier. Sie ahnten nicht, dass Deutsche in ihrer Nähe waren, die sie mit Anerkennung, aber auch mit Spott bedachten. Ein Geschäftsreisender, hatte mit wichtigen Gebärden seine Wissenschaft um Brahms zum besten gegeben: „... Gewiss, ein großer Mann, aber was man sich da erzählte!"— Wer wie Brahms aus dem Hamburger Gängeviertel stammte und in früher Jugend in einem Tingeltangel Klavier spielte, wer auch in reiferen Jahren mit Vergnügen in einem .Wirtshausgarten in Hemdsärmeln feine Zigarre rauchte und am Stammtisch jeden um Verzeihung bat, den er noch nicht beleidigt hatte — wie bezeichnete man diesen Mann? — „Dieser Mann ist eben ein Genie und ein Grobian, ein genialer Grobian!" Dies hörte eine junge Mannheimerin, Franziska Wolter, die mit ihrem Vater die erste Südlandreise unternommen hatte und vom freundlichen Zufall in die Nähe, des Tondichters geführt worden war, dessen Werke ihre verstorbene Mutter schwärmerisch liebte. Sie wusste und empfand es besser: Der Schöpfer des „Deutschen Requiems“ und der „Ersten Sinfonie“ stand hoch über allem. In ihr klang oft das Lied das ihre Mutter gesungen hatte:

„O wüßt ich doch den Weg zurück, den lieben Weg zum Kinderland! O warum sucht' ich nach dem Glück und ließ der Mutter Hand?“

Und sie fühlte, dass Brahms zart empfand. Sie wollte den wortreichen Kaufmann zurechtweisen — da sah sie. wie Brahms, der an der Stirnseite des Saales saß, den Kuchen und die Früchte, die als Nachtisch gebracht wurden, in eine Papierserviette wickelte und in die Rocktasche schob. Ihr war, als ob sie einen Schmerz verspürte. Gewiss, es war kein Vergehen, aber unpassend. Sie konnte nicht genau erklären warum sie dem Tondichter heimlich folgte, als sie ihn am Nachmittag vor dem Postamt sah. Sie wusste, dass es für eine junge Dame wenig schicklich war, wie ein Späher einem Großen nachzugehen, aber es trieb sie, den Verehrten einmal zu sehen, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Da sah sie, wie er in eine Straße der Armut einschwenkte, in der viel Wäsche von Haus zu Haus gespannt war. Sie hörte und sah, dort viele Kinder die den „Signore Brahms", den sie aus dem vergangenen Jahr rasch wiedererkannten mit Lachen und Rufen umringten. Da sah sie auch, wie er den Inhalt seiner prallgefüllten Rocktaschen unter die jubelnde Schar verteilte, viele Schokoladeplätzchen, Kupfermünzen und auch — die Serviettenpakete aus dem Hotel. Franziska fühlte brennende Scham. Am nächsten Abend aber, als ihr der gefeierte Landsmann vorgestellt wurde bekannte sie ihm, dass sie ihn inmitten einer frohen Kinderschar gesehen habe. Er lachte herzhaft: „Ja. liebe junge Dame. Die sind meine besten Freunde allüberall. Sie. spüren, dass ich sie verstehe. Ich war ja auch ein Kind der Armut. Gott weiß, dass ich es nicht leicht gehabt habe. Kinder sind oft kluge Richter. Wer sie auf seiner Seite hat, kann auf eine Armee von Besserwissern verzichten."
So sprach Johannes Brahms.