Freitag, 29. Oktober 2021

Ende des 2.Weltkriegs 1943 bis 1947. Teil 8


Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen. 


Die Bohnentorte

Im selben Stockwerk, in dem meine Großeltern in der Bahnhofstraße wohnten, lebte auch das Ehepaar Stangl. Die Oma und die Frau Stangl tauschten laufend gegenseitig Lebensmittel aus. Die eine gab der anderen einen Teil ihres irgendwie Erworbenen ab und umgekehrt. Auch fertige Mahlzeiten wechselten so zwischen Tür und Angel die Konsumation.
Eines Tages, an einem Sonntag, brachte uns die Frau Stangl drei Stück einer Torte herüber, die sehr schön aussah, brauner Schokoladenüberzug, weiße Stücke in der Fülle. Nach dem Mittagessen sollten sie verspeist werden. Es stellte sich aber heraus, dass der vermeintliche Schokoladenüberzug eine eingedickte Kaffeesauße und die Stücke weiße Bohnen waren. Damit hatte es sich für mich und man kann dazu nur bemerken: „Gut gemeint, aber schlecht getroffen“.

Man erkennt aus dieser kurzen Episode den Einfallsreichtum einer damaligen Köchin, die alles, was sie in gutem Glauben besaß, einer Verwertung zuführen wollte.

Das Kabinett

Es lag im hinteren Bereich der Wohnung meiner Großeltern, war mein Schlafzimmer und hatte ein Fenster zur Bahnhofstraße. Dem gegenüber befanden sich Doppeltüren, durch die man ins Vorhaus hätte gelangen können. Zwischen diesen Doppeltüren hatte aber der Opa Regale eingebaut, auf denen die Oma ihre Schätze hortete. Volle und leere Marmeladegläser, eingemachtes Obst in Rexgläsern, in Kalk eingelegte Eier sowie nicht dauernd verwendetes Geschirr.
Das Bett benützte schon mein Vater als er noch ledig war. In dem großen, geräumigen Bett schlief ich herrlich. Warum ich darüber schreibe, hat auch folgende Gründe: Auf der anderen Seite der Bahnhofstraße, schräg gegenüber war das Cafe Petzwinkler. Dort gingen die Amerikaner ein und aus. Durch die Fenster konnte man nicht ins Innere des Lokals sehen, die Scheiben hatten einen bunten Anstrich mit allerlei Figuren. Auf der Eingangstür stand etwas, das ich zwar lesen konnte, aber nicht verstand -
OFF LIMITS. Gelegentlich verlegten die Soldaten tagsüber ihre Unterhaltung auf die Straße. Dann stand unten nächst der Färbergasse einer mit einem Holzprügel. Mit diesem beförderte er einen weißen Ball die Bahnhofstraße hinauf. Oben wartete einer mit einem riesigen Handschuh, der den Ball fangen sollte. Ich konnte diesem Spiel nichts abgewinnen, weil ich seinen Sinn nicht verstand. Selbst, als ich einmal einen derartigen Ball kurzzeitig mein Eigentum nennen konnte, hatte ich keine Freude damit, weil er hart und nur zum Werfen geeignet war.
An den Wochenenden ging es beim Petzwinkler hoch her. Da spielten Bands in voller Lautstärke bei offenen Fenstern und Türen, manchmal sogar auf der Straße, wo auch getanzt wurde. Meinen Großeltern gefiel dieser Rummel gar nicht und der Opa sagte: „Diese Ami-Musik hat uns gerade noch gefehlt.“ Für mich war das alles Unterhaltung und Spaß. Stundenlang konnte ich wegen des Lärms nicht schlafen, stand am Fenster des Kabinetts im zweiten Stock und schaute auf die Straße hinunter, bis mich die Müdigkeit überkam. Am Sonntag konnte ich schlafen, solange ich wollte, denn in die Kirche gingen wir ohnehin nicht.

Die zweite Klasse

Da hatten wir die Frau Bartel, eine ältere Dame, die aus der Pension wieder in den Schuldienst zurückgeholt worden war. Es gab damals zu wenig männliche Lehrer, da viele im Krieg gefallen waren oder als ehemalige Nazis noch nicht unterrichten durften. Die Frau Bartel trug mehrere bodenlange Kittel übereinander, aus denen schwarze Schnürschuhe hervorschauten. Ihre Oberbekleidung bestand immer aus einer ärmellangen weißen Bluse, die schon ergrauten Haare hatte sie aufgesteckt. Aus dieser Klasse habe ich einige besondere Erinnerungen:
Es gab nur wenig Papier, deshalb schrieben wir auf der Schiefertafel die Buchstaben im Takt nach Ansage. Während eines solchen Vorganges ging die Frau Bartel inspizierend durch die Knabenreihen. Wenn sie bei mir einen Fehler bemerkte, steckte sie den Finger in den Mund und verwischte mit ihrer Spucke die Schrift. Den dabei entstandenen Geruch habe ich heute noch in der Nase. Mir grauste fürchterlich.
Auf dem hohen Kasten, dem ein Fuß fehlte und deshalb wackelte, stand eine große braune Flasche. In ihr befand sich flüssiger Lebertran. In der Zehn-Uhr-Pause mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und die Frau Bartel verpasste jedem von uns einen vollen Esslöffel davon. Widerspruch war zwecklos. Oft träumte ich davon die Flasche möge einmal von seinem wackeligen Untersatz herunterfallen und zerschellen. Der Traum blieb unerfüllt.
Ab der dritten Klasse wurde uns der Lebertran in Form von Kugerln verabreicht, weil wir alle als unterernährt galten.
Im Winter froren wir in der Klasse gelegentlich, weil es kein Heizmaterial zum Nachlegen für den Ofen gab. In einem Aufruf bat die Schulleitung die Eltern, man möge den Kindern einmal in der Woche ein Stück Holz mitgeben.
Wer eine bestimmte Menge Papier mitbrachte, bekam dafür ein Heft. Dessen Qualität war aber so schlecht, dass man nicht mit Tinte darauf schreiben konnte. Erst in der dritten Klasse fingen wir damit an, mit der Feder zu schreiben.
Ein bedeutendes Ereignis dieser Schulstufe war die Erstkommunion. Unser Religionslehrer, ein Franziskanerpater aus dem Konvikt Vogelsang, übte die Zeremonie mit uns. Wir sagten Herr Katechet zu ihm. Nicht alle, auch ich, hatten eine Kommunionkerze. Beim Empfang des Sakramentes in der Kirche borgte mir der neben mir stehende Klassenkamerad seine für den Augenblick.
Ich genoss allerdings den Vorteil, dass meine Mutter eine gute Schneiderin war und mir aus Anlass der Erstkommunion eine neue kurze Hose, ein weißes Hemd und ein Gilet nähte.
Wir Buben trugen damals bei Schönwetter und besseren Gelegenheiten Stutzen. Bei Schlechtwetter lange Wollstrümpfe zur kurzen Hose. Damit diese nicht nach unten rutschen konnten, versteckten wir unter dem Obergewand einen Strumpfgürtel aus Gummi um den Bauch. Von dem hing für jedes Bein vorne und hinten ein breites, mit Schlitzen versehenes Band hinunter. Mit einem Knopf bzw. mit einem kleinen Geldstück stellten wir zwischen dem Schlitz und dem Strumpf eine Verbindung her, die hielt.

Freitag, 22. Oktober 2021

Aus den Jahren 1943 bis 1947, Erinnerungen von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 7

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.


Der Waschtag

Einmal im Monat, zumeist an einem Montag, war Waschtag. Dieser begann schon am Vorabend mit dem Einweichen der Wäsche in einer Lauge im Grander der Waschküche. Das Heizmaterial für den Ofen, dessen Kupferkessel von unten beheizt wurde, musste ich aus dem Kellerabteil herbeischaffen. Am nächsten Tag, bald in der Früh, ging es richtig los.
Sobald das Wasser im Kessel die richtige Temperatur erreicht hatte, wurde die inzwischen in einem Holztrog umgebettete Wäsche gesechtert. Dieser Ausdruck stammte von einem runden Holzeimer mit Stil dem Sechter, mit dem die heiße Lauge aus dem Kessel geschöpft und über das Eingeweichte gegossen wurde. Das besorgte allerdings die Mutter, denn für mich wäre das zu gefährlich gewesen. Als Reinigungsmittel kamen damals nur Soda und Kernseife zum Einsatz.
Den weiteren Waschvorgang kann ich nicht beschreiben, denn ich musste zur Schule.

Wenn ich zu Mittag heim kam, quollen noch immer Dampfwolken aus dem Waschküchenfenster und die Mutter war dahinter nur schemenhaft zu sehen. Beim Schwemmen und beim Aufhängen half ich wieder mit. Im Sommer machte das Spaß, in der kalten Jahreszeit weniger. Oft hatte ich von der Kälte ganz rote Finger.
Die Strahlungswärme des Kachelofens im Wohnzimmer beschleunigte den Trocknungsvorgang. Auf einer mehrmals um ihn gewickelten Leine konnte man kleinere Wäschestücke mit Kluppen befestigen und dadurch wieder rascher verwenden. Der Waschtag ist mir als Fixpunkt meiner frühen Kinderjahre in Erinnerung geblieben.

Die Puppenproduktion

Die folgenden Ereignisse bekam ich nur am Rande mit, weil sich diese in der Grillparzerstraße zutrugen und ich, wie bereits erwähnt, in der zweiten und dritten Klasse der Volksschule größtenteils bei meinen Großeltern in der Bahnhofstraße lebte.
In der Nachkriegszeit gab es, wie bei vielen nicht unbedingt notwendigen Produkten, einen Mangel, der nur durch Eigeninitiative behoben werden konnte. Das betraf auch Spielzeug, insbesondere die von den Mädchen heiß begehrten Puppen. Die Mutter und die Besitzerin einer Spielwarenhandlung in der Sierninger Straße kamen bezüglich Produktion selbst hergestellter Puppen zu einer Einigung, die näher betrachtet, sehr einseitig und zu Ungunsten der Mutter, was die Relation von Material, Zeit und Verdienst betraf, ausfiel.
Der Stoff für die Puppenkörper stammte von Leintüchern, die Körperfarbe erhielten. Die Einfärbung des Stoffes geschah in großen Töpfen mit kochendem Wasser auf dem Gasherd. Woher die Puppenköpfe stammten, habe ich nie nachgefragt. Sie bestanden aus übermaltem Papiermachee und sahen sehr echt aus, da sie auch die Augenlider bewegen konnten. Die Mutter nähte nach vorgezeichneten Schnittmustern mit der Maschine den Rumpf und die einzelnen Gliedmaßen. In Form gebracht wurden die Teile mit eingestopfter Holzwolle. Den Einnähern bei den Fingern und Zehen galt die besondere Vorsicht. Das Einstopfen erfolgte mit einem dünnen Kochlöffelstiel. Die aufwändigste Arbeit kam erst mit der Bekleidung nach dem Zusammenbau der Körperteile. Die Mutter verbrachte halbe Nächte damit und verwendete besonderes Augenmerk und Sorgfalt darauf, jeder Puppe ein spezifisches Aussehen zu verleihen. Einmal war ich dabei, als wir die große Einkaufstasche, gefüllt mit einer neuen Puppenlieferung, in das Geschäft trugen und dort bei der Frau Beranek, so hieß die Besitzerin des Ladens, abgaben.

Opa und Oma

Die zweite und dritte Klasse der Volksschule verbrachte ich, wie bereits erwähnt, bei meinen Großeltern in der Bahnhofstraße. Der Großvater hieß, wie mein Vater, Fritz und war Jahrgang 1887.
Er konnte als Arbeiterkind die vierjährige Staatsgewerbeschule in Steyr besuchen, seine Mutter war in der Nagelfabrik der Firma Werndl in Unterhimmel beschäftigt und starb 1920 bei der Grippepandemie. Im Ersten Weltkrieg musste er nicht einrücken, er war unabkömmlich gestellt, weil er in der Brotfabrik Reder eine Stelle als Buchhalter inne hatte. Später wechselte er in die Steyrer Gebietskrankenkassa. Dort war er Kassier und für die Auszahlung der Krankengelder zuständig.
Er hatte es bei seiner Tätigkeit auch mit Fremdarbeitern aus verschiedenen Nationen zu tun, die als Folge des Krieges in Steyr gestrandet waren. Als sich einmal ein Grieche über den geringen ihm amtlich zuerkannten Betrag aufregte, sagte er zum Opa: „Wenn Du kommen Griechenland, ich Dich nicht einmal lassen auf mein Abort.“ Eines Tages brachte er eine Neuerung mit nach Hause, den ersten Kugelschreiber, der jedoch so patzte, dass er mir seine Benützung verbot.

Oft war ich nach der Schule in Opas Büro, machte auf einem kleinen Tischchen meine Hausaufgaben, las ein wenig und stempelte zur Vertreibung der Langeweile unzählige Krankenscheine. Nach 14.00 Uhr gingen wir gemeinsam zur Oma, die mit dem Mittagessen auf uns wartete.
Die Wohnküche der Großeltern lag südseitig. Aus ihren beiden Fenstern konnte ich zum Bahnhof, auf die Ennsleite, zur Evangelischen Kirche und zur Stadtpfarrkirche sehen. Das Essen bereitete die Oma auf einem zweiflammigen Gasherd, der auf dem Ofen stand, zu. Der Gasherd wurde allgemein mit Rechaud (Rescho gesprochen) bezeichnet. Sie konnte gut kochen, was in der unmittelbaren Nachkriegszeit wegen des Lebensmittelmangels nicht einfach war. Selbst wenn man Geld hatte, nützte das nichts, da nur mit Marken etwas zu kriegen war.

Die Oma hieß eigentlich mit Vornamen Josefine, das erfuhr ich allerdings erst später, weil die ganze Verwandtschaft sie Pia nannte. Sie war die Tochter des Tischlermeisters Böhm aus dem Steyrer Ortsteil Aichet und hatte zur Aussteuer eine Kredenz, eine Abwaschkommode mit zwei ausziehbaren Blechbecken, einen Tisch und vier Stühle erhalten.
Ihr besonderer Stolz war das zur Bahnhofstraße ausgerichtete, mit dunklen Möbeln bestückte Wohnzimmer, welches diesen Namen gar nicht verdiente, denn nur zu Weihnachten trat das sonst reine Schaustück in Funktion. Schon zwei Tage vorher musste der Opa den Kachelofen bedienen, damit es im Raum einigermaßen warm wurde.
Von der Oma sind mir Redewendungen in Erinnerung geblieben, die sie oft verwendete. Wenn sie bei ihren Zimmerpflanzen herum hantierte, sagte sie: „Was die Natur nicht so alles schafft“ und wenn sie zu ihrer Gesundheit angesprochen wurde, „Man kennt halt ein jedes Jahr“.
Einmal regte sie sich über einen Artikel im Tagblatt derart auf, dass sie den Opa bedrängte, das Abonnement der Zeitung zu stornieren. Sie hatte in einer Überschrift gelesen „72-jährige Greisin verunglückt“ - „Ich bin schon 75ig und noch lange keine Greisin“, schimpfte sie. „Ein Redakteur, der so etwas schreibt, gehört entlassen!“, „eine solche Frechheit lasse ich mir nicht bieten!“
Den Opa brachte das nicht aus der Ruhe.

Von ihm wäre noch nachzutragen, dass er immer von einem eigenen Haus träumte und Pläne dazu entwarf. Seine finanziellen Mittel reichten weder für einen Grundkauf, noch für einen Hausbau. Ins Gasthaus ging er nie! Sein einziges Hobby war der Arbeiter-Sängerbund-Stahlklang, dem er sich in der Jugend als Sänger und später als Funktionär zur Verfügung stellte. Opa und Oma waren Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Am pompösen Maiaufmarsch zum Steyrer Stadtplatz nahmen sie nie teil, sondern verfolgten ihn von der Straße aus.
Wenn der Opa mit der Oma Ärger hatte, ging er heimlich ins Wohnzimmer und nahm einen Zug aus der Flasche. Er nannte das „Stern gucken!“




Freitag, 15. Oktober 2021

Erinnerungen an die Jahre 1943 bis 1947 von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 6

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.




Zeichnungen von Bürgerschuldirektor und Maler aus Steyr Alois Lebeda. Im Schuljahr 1904/1905 unterrichtete er Adolf Hitler und 1928/1930 Bundespräsident Rudolf Kirchschläger.  

Die Großmutter

Sie war eine seelensgute Haut. Ich kann nur das Beste über sie berichten, unter anderem auch deswegen, weil sie uns in der schwierigen Situation nach dem unerwarteten Tod meines Vaters, selbst erst vor kurzem zum zweiten Mal Witwe geworden, aufnahm und mit versorgte.

Ihre erste Ehe ging sie mit einem Herrn Rauscher ein. Mit diesem hatte sie einen Sohn, den Onkel Sepp, der allerdings in Wiener Neustadt lebte. Zum zweiten Mal verheiratet bekam sie 1909 den Onkel Fritz und 1910 meine Mutter Leopoldine. An ihren Mann, meinen eigentlichen Großvater, der Franz Burgholzer hieß, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl es ein gemeinsames Foto von ihm und mir gibt. Auch auf weitere Daten kann ich nicht zurück greifen. Er starb im August 1946, drei Monate vor meinem Vater, wahrscheinlich an Krebs.

Die Großmutter führte den Haushalt, das heißt sie war für den Verzehr zuständig. Zum Großeinkauf im nahegelegenen Konsum erstellte sie zu Monatsbeginn eine Liste. Auf dieser schrieb sie Öl immer am Schluss mit zwei „ll“ und statt Senf „Senft“.
Unter tags saß sie häufig in einem Ohrensessel neben dem Kachelofen. Ihr Rückzugsgebiet befand sich im hinteren Teil der Wohnung, im sogenannten Kabinett. Um dieses zu erreichen oder zu verlassen, musste sie durch den gemeinsamen Schlafraum von mir und meinem Bruder gehen, dann weiter durch das Wohnzimmer, in dem die Mutter schlief.
Um niemanden während der Dunkelheit in seinem Schlaf zu stören, benützte sie einen irdenen weißen Nachttopf. Den trug sie am Morgen wie eine Kellnerin ins WC. Nach entsprechender Reinigung stellte sie ihn im Kabinett zum Trocknen auf das Fensterbrett. Das verleitete mich einmal dazu, von Mitschülern angestiftet, ein wenig Brausepulver, das wir zur Herstellung schmackhafter Getränke, verdünnt mit Wasser verwendeten, hineinzugeben. Am übernächsten Morgen ging die Großmutter mit einer Harnprobe zum Arzt. Das Ergebnis erfuhren wir nie.

Badefreuden

Die Wohnung der Großmutter verfügte über ein abgetrenntes WC, aber kein Bad. Nur ein Waschbecken und eine Abwasch hatte die Küche vorzuweisen. Benötigtes Warmwasser wurde in Töpfen von unterschiedlicher Größe am Gasherd erhitzt. Wegen der akuten Verbrennungsgefahr durfte ich nichts angreifen oder eigenständig Warmwasser holen. Bei der Morgentoilette gab es ohnehin nur kaltes Wasser.
Die Leibwäsche wechselten wir einmal pro Woche, gebadet wurden mein Bruder und ich alle 14 Tage, meist an einem Samstag.
Die Handlung glich einem Ritual:
Beim Transport der Badewanne vom Dachboden in die Küche durfte, besser gesagt musste, ich mithelfen.
Zu allererst war die Großmutter an der Reihe. Während sie Badefreuden unter Mithilfe der Mutter einschließlich Kopfwäsche genoss, durften wir Kinder das Wohnzimmer nicht verlassen. Erst nach ihrem Rückzug in ihren Schlafraum endete für uns die Warterei. Gemeinsam schöpften mein Bruder und ich das Wasser aus und gossen es in die Abwasch. Dann füllte die Mutter die Wanne für uns aufs Neue.
Ich ärgerte mich immer furchtbar, dass mein Bruder den Vorrang genoss und ich mich in seiner „Hinterlassenschaft“ suhlen musste.
Das größte Augenmerk beim Baden genossen die Füße. Da wir nach dem Krieg in Ermangelung von geeignetem Schuhwerk meist barfuß liefen, bedurfte es oft eines Bimssteines, um sie wieder einigermaßen sauber zu kriegen. Das Wiesengrün erwies sich als besonders hartnäckig, denn die täglich abends durchgeführte Fußwaschung in einem Lavoir erzielte nur in geringem Maße Wirkung.
Nach mir kam es für die Mutter zu einem neuerlichen Wasserwechsel. Dann ging es ab ins Bett, das wir, wie bei der Großmutter zuvor, ebenfalls nicht mehr verlassen durften.
Am nächsten Tag trugen wir die Badewanne wieder auf den Dachboden zurück.

Die Kaffeemaschine

Großmutters besonderer Stolz war ihre Kaffeemaschine aus Porzellan. Sie bestand aus zwei Teilen, dem oberen, in dem die Zubereitung statt fand, und in dem unteren, in dem sich der fertige Kaffee befand, nachdem er ein im oberen Teil fest integriertes Sieb durchflossen hatte. Dieses Gerät, das man als Vorläufer eines späteren Apparates mit Filter bezeichnen könnte, hieß „Karlsbader“. Es gehörte in jeden besseren Haushalt, obwohl in den meisten Fällen mangels echter Kaffeebohnen ein Getränk nur aus Kaffeeersatz damit hergestellt werden konnte.

Die Zubereitung dieses „Kaffees“ erfolgte so: Als Ausgangsprodukt diente eine sechseckige Scheibe von 1,5 cm Dicke von der Fa. Titze bzw. Franck und Kathreiner, die es in schön verpackten, etwa 15 cm langen Stangen, in jedem Lebensmittelgeschäft zu kaufen gab. Beim Zerbröseln der Scheibe mit den Fingern bemerkte man, dass sie auch Feigenbestandteile enthielt, weil man die Kerne sehen konnte. Darüber kamen dann noch frisch mit der Kaffeemühle zu Mehl zerkleinerte geröstete Malzkörner. Diese stammten aus einem Papiersack mit weißen Punkten, der die Aufschrift „Linde“ trug. Auf das Öffnen einer neuen Tüte waren alle Kinder scharf, weil sich zusätzlich zum Inhalt auch kleines Spielzeug in ihr befand. Zum Schluss gab die Großmutter noch eine Prise Salz auf die Mischung, da diese nach ihrer Meinung zur Geschmacksverbesserung beitrug.
Dann erfolgte der Aufguss mit kochendem Wasser, nicht auf einmal, sondern in Raten, damit die Flüssigkeit Gelegenheit bekam, auslaugend zu wirken. Dann war die Brühe mit etwa einem halben Liter Inhalt im unteren Teil fertig. Vom Geschmack kann ich nichts berichten, da das Getränk nur für die Erwachsenen bestimmt war. Mein Bruder und ich bekamen statt dessen eine heiße Milch oder einen Kakao.

Freitag, 8. Oktober 2021

Kindheitserinnerungen von Konsulent OSR Peter Grassnigg - Teil 5

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  

Das Wiedersehen

Nur eine einzige Bergtour, die mein Vater nach seiner Rückkehr aus der englischen Gefangenschaft im Sommer 1946 mit mir unternahm, ist mir bildhaft in Erinnerung geblieben. Sie führte uns von Vorderstoder aus auf die Hutterer Böden, einem Almgebiet, das damals noch frei von jeder touristischen Erschließung, zu Fuß bestiegen werden musste. Der Ausgangspunkt war Hinterstoder.
Als wir uns schon auf dem Rückweg befanden, begegnete uns eine Wandergruppe, aus der plötzlich ein schmächtiger Mann hervortrat und rief: „Fritz, bist Du das wirklich!“ Dann lagen sich mein Vater und der zunächst Unbekannte in den Armen. Mehrmals schupfte der Vater das Leichtgewicht in die Höhe und beide waren außer sich vor Freude. Erst viel später, eigentlich nach Jahren, konnte ich dieses Treffen auf der Alm in seiner ganzen Tragweite nachvollziehen – es betraf den Onkel Lois.
Er war der Halbbruder meines Großvaters, jedoch um 18 Jahre jünger als dieser, geboren 1906 und damit nur vier Jahre älter, als mein Vater. Das Verhältnis Onkel zu Neffe spielte sich daher auf einer annähernd gleichen Generationsebene ab.
Alois war 1934 als Februarkämpfer in Steyr auf abenteuerliche Weise unter Mithilfe meines Vaters über Prag nach Moskau emigriert und machte dort wegen seines Fachwissens und seiner Regimetreue Karriere. Sein um zwei Jahre älterer Bruder Karl folgte ihm später freiwillig in die Sowjetunion, weil dort Arbeitskräfte mit Spezialkenntnissen gute Bedingungen vorfanden. Er geriet jedoch aus nie geklärten Gründen in die Fänge des KGB (Geheimdienst) und verschwand auf Nimmerwiedersehen in einem Gulag. 
1946 kehrte Alois nach 12 Jahren in der Emigration nach Steyr zurück und betätigte sich politisch bei den Kommunisten als Stadtrat für Wohnungsangelegenheiten. 
Zum weiteren Verlauf des Wiedersehens in freier Natur nach langer Trennung fällt mir nichts mehr ein, doch die Bilder, wie mein Vater den Alois in die Höhe schupfte und immer wieder umarmte, werde ich nie vergessen.

Die Lebensgeschichte von Alois ist in dem 1998 erschienenen Buch mit dem Titel „Fluchtspuren“, edition sandkorn, Verlag Franz Steinmaßl, genau beschrieben worden.

Eine Eintragung mit Folgen

Als Ersatz für meinen Vater kam der Volksschullehrer Adolf K. für die Oberstufe (5.- 8. Klasse) an die Schule nach Vorderstoder. Er stammte aus dem Nachbarort Roßleithen, war durch und durch Nationalsozialist, was ihm mangels geeigneter oder williger Personen die Stelle des Ortsgruppenleiters der NSDAP einbrachte. Er gehörte dem Geburtsjahrgang 1909 an, der relativ spät zum Kriegsdienst eingezogen wurde. K. hatte 1939 nichts eiligeres zu tun, als meinen Vater in Abwesenheit als Mitglied des NS-Lehrerbundes eintragen zu lassen. Er füllte die dazugehörige Mitgliedskarte aus und klebte sogar einige Marken hinten darauf. Alles war exakt vorbereitet, nur eines fehlte, die Unterschrift meines Vaters. Natürlich meldete K. seine Werbung an die nächst höhere Stelle weiter, die eine Registrierung vornahm. Genau wie die Nazis einmal waren.

Dieser Umstand wurde meinem Vater beim Wiedereintritt in den Schuldienst im September 1946, der auch mein Schulbeginn war, zum Verhängnis. Plötzlich galt er als Mitglied einer Vorfeldorganisation der NSDAP und damit als belastet. Die Belastung galt zwar wegen seiner Kriegsteilnahme und Unbescholtenheit als gering, bedurfte jedoch einer genaueren Überprüfung durch die Organe der wieder entstandenen Republik im Rahmen der Entnazifizierungs-Gesetzgebung. Das ging damals natürlich nicht von heute auf morgen. Obwohl mein Vater einen Briefverkehr mit der zuständigen Behörde in Linz führte, in dem er seine Mitgliedschaft bei einer NS-Organisation bestritt, war er arbeitslos und durfte, trotzdem er gebraucht worden wäre, nicht unterrichten. Um für den Unterhalt der Familie zu sorgen, arbeitete er bei einem Bauern als Knecht.

Anfang Oktober hatte er die Idee, eine Bergtour ins nahegelegene Tote Gebirge zu machen. Mein letzter bildlicher Eindruck an ihn ist der, wie er auf sein Fahrrad stieg und Richtung Hinterstoder davon fuhr. Eine Wetterwarnung beachtete er nicht. „Es reißt eh auf“, sagte er, womit er ein blaues Loch am verhangenen Himmel meinte. Er kam nie wieder!

Am 6. Oktober gerieten er und seine Begleitung in einen Schneesturm. Beide erfroren. Seine Leiche wurde erst acht Monate später geborgen und im August 1947 am Urnenhain in Steyr beigesetzt.

Weil Vater lange Zeit als vermisst galt und als vom Schuldienst entlassen geführt wurde, erhielt die Mutter keine Bezüge oder Rente. Nicht nur deshalb, auch weil wir in Vorderstoder keine Bleibe mehr hatten, zogen wir nach Steyr und fanden bei der Großmutter mütterlicherseits, deren Mann im August 1946 an Krebs verstorben war, Aufnahme und Unterkunft.

In der Schule

Die ersten drei Wochen meiner Schullaufbahn verbrachte ich noch in der Unterstufe der zweiklassigen Volksschule in Vorderstoder.

Die Menge der vielen im Raum anwesenden Kinder war mir nicht fremd, da ich sozusagen Hausrecht genoss und an Nachmittagen, in denen ich nicht nach außen konnte, noch nicht schulpflichtig, die Klasse als Spielraum benutzen durfte. Durch den Umgang mit den Schülern konnte ich zum Teil schon besser lesen und rechnen als diese.

Als ich im September 1946 in die erste Schulstufe eintrat, saß der Gandiola Hansi neben mir, dessen Sprache ich nur teilweise verstand. Es handelte sich bei ihm um einen Buben aus Südtirol, der mit seiner Familie im Rahmen des Hitler-Mussolini-Paktes die Heimat verließ und in unserer Gebirgsgegend angesiedelt wurde.

Mein erstes Buch, es hieß auch so, hatte schon Vorbesitzer. An den Innenseiten des vorderen und hinteren Deckels prangten in großen Lettern die Buchstaben des Alphabets. Papier zum Schreiben gab es, im Gegensatz zu später in Steyr genug, weil die Krämerin einiges gehortet hatte.

Nach Allerheiligen kam ich an die vierklassige Volksschule für Knaben auf der Promenade in Steyr. Ich musste mich in die letzte Bankreihe setzen, da die vorderen Plätze alle schon besetzt waren. Einige Mitschüler kannte ich schon flüchtig von meinen kurzzeitigen Aufenthalten bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Die erste Klasse unterrichtete der Herr Direktor, ein für mich völlig neuer Titel. Er hieß Karl Wipplinger, war damals 53 Jahre alt, ein Herr mit kurzen weißen Haaren und Brille. Er ist mir als gütig und wohlwollend in Erinnerung geblieben.

Während meiner gesamten Ausbildungszeit stammten meine Mitschüler aus drei unterschiedlichen Geburtsjahrgängen. Es waren 38iger und 39iger dabei, die während des Krieges aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Unterricht besuchen konnten und diesen jetzt verspätet nachholten. Auch Flüchtlingskinder mit eigenartigen Namen waren dabei. Für Buben gilt Alter ist gleich stärker. Das spielte in der Rangreihe eine Rolle. Gegen die Älteren hatten wir, der reguläre 40iger Jahrgang, nichts zu bestellen.

Nach Absolvierung dieser Schulstufe nahmen mich meine Großeltern, die in der Bahnhofstraße wohnten, für zwei Jahre in Pflege, damit daheim ein Esser weniger am Tisch saß.

Steyr, Gemälde von Alois Lebeda


Waffenfabrik Werndl Gemälde von Alois Lebeda
 

Sonntag, 3. Oktober 2021

Erntedank in Hinterstoder am 3.10.2021


















                                                                       Fotos: Traude Schachner
 

Freitag, 1. Oktober 2021

Am Ende des zweiten Weltkriegs. Teil 4

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  


Der 21.4.1945

Erst Jahre später konnte ich das obige Datum mit meinen Beobachtungen in Einklang bringen.
In meinem Alter von noch nicht einmal fünf Jahren waren mir weder Ursache noch Wirkung klar.
Ich hatte keine Angst oder eine andere Gefühlsregung. Nur staunen ob des gewaltigen Ereignisses, das sich über mir abspielte, erfüllte mich. Das Gehörte und Geschehene ist nur, wie vieles aus dieser Zeit, in Einzelbildern und als Kurzfilm in Erinnerung geblieben.
In immer neuen Wellen flogen die Bomber und Begleitflugzeuge über uns drüber. Nie mehr nachher in meinem Leben sah ich auf einmal eine solche Mengen an Flugzeugen am Himmel. Ihr Gedröhne durchdrang das ganze Tal. Der örtlich bestellte Luftschutzwart Berger, im Privatbereich Schuster und Mesner, kam um die Friedhofsecke und meldete den Anflug feindlicher Maschinen. Es war aber niemand da, außer wir Kinder, der ihm zuhörte, worauf er sich wieder zurückzog.
Ob es bei diesem Überflug, einem früheren oder späteren geschah, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls versetzte der wahrscheinlich aus technischen Gründen erfolgte Absturz einer feindlichen Maschine den ganzen Ort in helle Aufregung. Als das Interesse der behördlichen Ermittlungen und das der Erwachsenen am Unglück vorbei war, schlug auch für uns Kinder die Stunde und wir krochen in das Wrack hinein. Auch ich rannte mit einem kleinen Beutestück nach Hause und zeigte es voller Stolz der Mutter. Diese hatte allerdings damit keine Freude, im Gegenteil, ich musste den Fund zum Bürgermeister Riedler hinübertragen und dort abgeben.

Der Angriff der Bomberflotte am 21.4.1945 galt dem Bahnhof von Attnang/Puchheim.

Der Umbruch

In den letzten Kriegs- und ersten Friedenstagen glich unser Bergdorf einem Durchgangslager.
In Ermangelung geografischer Kenntnisse verirrten sich von beiden Seiten kommend Flüchtlingstrecks, rückflutende Soldaten, Wehrmachtsfahrzeuge etc. in unser Tal. Überall lag nicht mehr benötigtes Kriegsgerät, aufgebrochene Kisten und Schachteln herum. Kurz, es herrschte Chaos, weil die sonst penibel agierende und ordnende Nazimaschinerie von einem Tag zum anderen verschwunden war.
In der Schule fand schon länger kein Unterricht mehr statt. Die Mutter sperrte die sonst immer offene Haustür der Schule von innen zu, weil ständig jemand herein kam und irgend etwas wollte. In den Tagen des sogenannten Umbruches durften mein Bruder und ich wegen der großen Unsicherheit nur in Begleitung von Erwachsenen ins Freie und zum Spiel mit den Nachbarskindern. Angst hatten wir aber keine.
An die durchziehenden Flüchtlingsströme gewöhnten wir uns bald. In ihre Lager, die sie außerhalb des Ortes aufschlugen, durften wir nicht. Die Mutter kochte zusammen mit anderen Frauen des Dorfes im Schulhaus ununterbrochen Kartoffelpuffer, die sie an die Durchziehenden verteilte. Die dazu erforderlichen Naturprodukte brachten die Helferinnen mit. Auch Seife stellten die Frauen selbst her, denn daran herrschte akuter Mangel.
Einmal hätte die Mutter zum Dank ein kleines Pferd geschenkt bekommen. Sie nahm es aus guten Gründen nicht an, da keine Möglichkeit der Unterbringung und Versorgung bestand. Obwohl ich darum bettelte, fand ich kein Gehör. Auch die Bauern mochten diese Pferde nicht, sie waren ihnen zu „leicht“, wie sie sagten. Zur Bodenbearbeitung in unserer Gegend waren starke Rösser nötig.

Makabre Kinderspiele

Mein unmittelbares kleines Umfeld erstreckte sich zwischen Kirche, Pfarrhof, Schule, Krämer, Gemeinde und Bäckerei. Alles zusammen lag entlang der Staubstraße nicht weiter als 80 m auseinander. Dementsprechend klein war auch die Kinderschar, die auf diesem engen Raum zusammen lebte. An Kriegsspielen hatten wir kein Interesse, obwohl diese naheliegend gewesen wären. Im Sinne der Nachahmung beschränkten wir uns auf die bei Begräbnissen üblichen, örtlichen Rituale.
Die Bäckerbuben hatten von ihrem Vater einen Getreidesack erhalten. Dieser wurde in ein Messgewand für den jeweiligen „Pfarrer“ umfunktioniert. Die Vorbereitungen für eine spielerische Bestattung dauerten meistens bedeutend länger, als die darauffolgende Handlung. Jedem, jeder, denn auch Mädchen waren dabei, wurde eine bestimmte Funktion zugeteilt. Es gab den Pfarrer, den Kreuzträger, den Mesner, die Ministranten usw. Ich war für den Weihbrunnkessel zuständig. Dieser bestand aus einer mit Wasser gefüllten Blechdose, einem Draht als Henkel und einem Birkenzweig als Wedel. Als einer der Kleinsten musste ich mich anfangs mit dieser Funktion begnügen. Nur wenn jemand ausfiel, hatte ich die Chance auf Vorrückung.
Wir begruben in unserer kindlichen Fantasie in der Ecke des Spielgeländes alles: Würmer, Käfer, einen überfahrenen Frosch oder eine Maus, die wir der Katze weggenommen hatten. Die auf Deutsch gesprochenen Litaneien kannten die Größeren auswendig. Nur der „Pfarrer“ musste murmeln, indem er so tat, als ob er des Lateinischen mächtig wäre.
Fand ein echter Leichenzug statt, folgten wir diesem mit Respekt und genügendem Abstand, barfuß, unfrisiert, im schmutzigen Wochengewand, doch hellhörig auf jedes Detail achtend, da es beim Spiel der Wiederverwendung diente.
Eines Tages hob der Totengräber an der Außenmauer des Friedhofes eine Grube aus, die er nach getaner Arbeit mit einigen Brettern absicherte. Geraume Zeit später kam ein Landwirt mit einem Pferdegespann daher. Auf seinem Wagen lag eine männliche, nur mit Unterwäsche bekleidete Leiche, die er in die Grube warf und ein wenig mit Erde bedeckte. Er legte die Bretter wieder darüber und verschwand wortlos. Durch diesen Vorgang hatte uns die Realität eingeholt. Wenn nun jemand glaubt, die ganze Spielgemeinschaft wäre aus Angst und Schrecken vor dem Toten auseinander gelaufen und hätte sich versteckt irrt. Ganz im Gegenteil, die Echtsituation bot sich als einmalige Gelegenheit an, die auch genützt wurde. Es fand ein pompöses Begräbnis an der Grube nach unserer Art statt.
Jeder, der das liest, wird sich dazu seine eigene Meinung bilden und die Angelegenheit aus der Jetztzeit beurteilen. Für mich als damaliger Knirps kann ich berichten, dass das Erlebte keine nachhaltigen Spuren hinterließ. Die Bilder sind zwar lebenslang gespeichert geblieben, ich kann sie jederzeit aus dem Gedächtnis hervorholen. Noch dazu, weil ich nicht mehr genau weiß, ob das Geschehene auf Einmaligkeit beruht oder ob es eine Fortsetzung gab.
Fest steht, dass sich gegen Kriegsende und danach eine nicht mehr feststellbare Zahl von Nazi-Größen und Wehrmachtsangehörigen im Stodertal und im Toten Gebirge versteckt hielt. Aufgrund der Aussichtslosigkeit ihrer Lage begingen einige Selbstmord durch Erschießen oder Vergiften. Die örtlichen Pfarrer verweigerten einem auf solche Art zu Tode Gekommenen einen Ruheplatz in der geweihten Friedhofserde. Er wurde außerhalb verscharrt. Ob zur Feststellung der Identität solcher Toten jemals Anstrengungen unternommen wurden, weiß ich nicht.

Bei meinem letzten Besuch zu den Wurzeln meiner Kindheit bemerkte ich über der Stelle der seinerzeitigen Grube eine Betonplatte auf der zwei Abfallcontainer standen.