Freitag, 1. Oktober 2021

Am Ende des zweiten Weltkriegs. Teil 4

Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.

Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.

Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.  


Der 21.4.1945

Erst Jahre später konnte ich das obige Datum mit meinen Beobachtungen in Einklang bringen.
In meinem Alter von noch nicht einmal fünf Jahren waren mir weder Ursache noch Wirkung klar.
Ich hatte keine Angst oder eine andere Gefühlsregung. Nur staunen ob des gewaltigen Ereignisses, das sich über mir abspielte, erfüllte mich. Das Gehörte und Geschehene ist nur, wie vieles aus dieser Zeit, in Einzelbildern und als Kurzfilm in Erinnerung geblieben.
In immer neuen Wellen flogen die Bomber und Begleitflugzeuge über uns drüber. Nie mehr nachher in meinem Leben sah ich auf einmal eine solche Mengen an Flugzeugen am Himmel. Ihr Gedröhne durchdrang das ganze Tal. Der örtlich bestellte Luftschutzwart Berger, im Privatbereich Schuster und Mesner, kam um die Friedhofsecke und meldete den Anflug feindlicher Maschinen. Es war aber niemand da, außer wir Kinder, der ihm zuhörte, worauf er sich wieder zurückzog.
Ob es bei diesem Überflug, einem früheren oder späteren geschah, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls versetzte der wahrscheinlich aus technischen Gründen erfolgte Absturz einer feindlichen Maschine den ganzen Ort in helle Aufregung. Als das Interesse der behördlichen Ermittlungen und das der Erwachsenen am Unglück vorbei war, schlug auch für uns Kinder die Stunde und wir krochen in das Wrack hinein. Auch ich rannte mit einem kleinen Beutestück nach Hause und zeigte es voller Stolz der Mutter. Diese hatte allerdings damit keine Freude, im Gegenteil, ich musste den Fund zum Bürgermeister Riedler hinübertragen und dort abgeben.

Der Angriff der Bomberflotte am 21.4.1945 galt dem Bahnhof von Attnang/Puchheim.

Der Umbruch

In den letzten Kriegs- und ersten Friedenstagen glich unser Bergdorf einem Durchgangslager.
In Ermangelung geografischer Kenntnisse verirrten sich von beiden Seiten kommend Flüchtlingstrecks, rückflutende Soldaten, Wehrmachtsfahrzeuge etc. in unser Tal. Überall lag nicht mehr benötigtes Kriegsgerät, aufgebrochene Kisten und Schachteln herum. Kurz, es herrschte Chaos, weil die sonst penibel agierende und ordnende Nazimaschinerie von einem Tag zum anderen verschwunden war.
In der Schule fand schon länger kein Unterricht mehr statt. Die Mutter sperrte die sonst immer offene Haustür der Schule von innen zu, weil ständig jemand herein kam und irgend etwas wollte. In den Tagen des sogenannten Umbruches durften mein Bruder und ich wegen der großen Unsicherheit nur in Begleitung von Erwachsenen ins Freie und zum Spiel mit den Nachbarskindern. Angst hatten wir aber keine.
An die durchziehenden Flüchtlingsströme gewöhnten wir uns bald. In ihre Lager, die sie außerhalb des Ortes aufschlugen, durften wir nicht. Die Mutter kochte zusammen mit anderen Frauen des Dorfes im Schulhaus ununterbrochen Kartoffelpuffer, die sie an die Durchziehenden verteilte. Die dazu erforderlichen Naturprodukte brachten die Helferinnen mit. Auch Seife stellten die Frauen selbst her, denn daran herrschte akuter Mangel.
Einmal hätte die Mutter zum Dank ein kleines Pferd geschenkt bekommen. Sie nahm es aus guten Gründen nicht an, da keine Möglichkeit der Unterbringung und Versorgung bestand. Obwohl ich darum bettelte, fand ich kein Gehör. Auch die Bauern mochten diese Pferde nicht, sie waren ihnen zu „leicht“, wie sie sagten. Zur Bodenbearbeitung in unserer Gegend waren starke Rösser nötig.

Makabre Kinderspiele

Mein unmittelbares kleines Umfeld erstreckte sich zwischen Kirche, Pfarrhof, Schule, Krämer, Gemeinde und Bäckerei. Alles zusammen lag entlang der Staubstraße nicht weiter als 80 m auseinander. Dementsprechend klein war auch die Kinderschar, die auf diesem engen Raum zusammen lebte. An Kriegsspielen hatten wir kein Interesse, obwohl diese naheliegend gewesen wären. Im Sinne der Nachahmung beschränkten wir uns auf die bei Begräbnissen üblichen, örtlichen Rituale.
Die Bäckerbuben hatten von ihrem Vater einen Getreidesack erhalten. Dieser wurde in ein Messgewand für den jeweiligen „Pfarrer“ umfunktioniert. Die Vorbereitungen für eine spielerische Bestattung dauerten meistens bedeutend länger, als die darauffolgende Handlung. Jedem, jeder, denn auch Mädchen waren dabei, wurde eine bestimmte Funktion zugeteilt. Es gab den Pfarrer, den Kreuzträger, den Mesner, die Ministranten usw. Ich war für den Weihbrunnkessel zuständig. Dieser bestand aus einer mit Wasser gefüllten Blechdose, einem Draht als Henkel und einem Birkenzweig als Wedel. Als einer der Kleinsten musste ich mich anfangs mit dieser Funktion begnügen. Nur wenn jemand ausfiel, hatte ich die Chance auf Vorrückung.
Wir begruben in unserer kindlichen Fantasie in der Ecke des Spielgeländes alles: Würmer, Käfer, einen überfahrenen Frosch oder eine Maus, die wir der Katze weggenommen hatten. Die auf Deutsch gesprochenen Litaneien kannten die Größeren auswendig. Nur der „Pfarrer“ musste murmeln, indem er so tat, als ob er des Lateinischen mächtig wäre.
Fand ein echter Leichenzug statt, folgten wir diesem mit Respekt und genügendem Abstand, barfuß, unfrisiert, im schmutzigen Wochengewand, doch hellhörig auf jedes Detail achtend, da es beim Spiel der Wiederverwendung diente.
Eines Tages hob der Totengräber an der Außenmauer des Friedhofes eine Grube aus, die er nach getaner Arbeit mit einigen Brettern absicherte. Geraume Zeit später kam ein Landwirt mit einem Pferdegespann daher. Auf seinem Wagen lag eine männliche, nur mit Unterwäsche bekleidete Leiche, die er in die Grube warf und ein wenig mit Erde bedeckte. Er legte die Bretter wieder darüber und verschwand wortlos. Durch diesen Vorgang hatte uns die Realität eingeholt. Wenn nun jemand glaubt, die ganze Spielgemeinschaft wäre aus Angst und Schrecken vor dem Toten auseinander gelaufen und hätte sich versteckt irrt. Ganz im Gegenteil, die Echtsituation bot sich als einmalige Gelegenheit an, die auch genützt wurde. Es fand ein pompöses Begräbnis an der Grube nach unserer Art statt.
Jeder, der das liest, wird sich dazu seine eigene Meinung bilden und die Angelegenheit aus der Jetztzeit beurteilen. Für mich als damaliger Knirps kann ich berichten, dass das Erlebte keine nachhaltigen Spuren hinterließ. Die Bilder sind zwar lebenslang gespeichert geblieben, ich kann sie jederzeit aus dem Gedächtnis hervorholen. Noch dazu, weil ich nicht mehr genau weiß, ob das Geschehene auf Einmaligkeit beruht oder ob es eine Fortsetzung gab.
Fest steht, dass sich gegen Kriegsende und danach eine nicht mehr feststellbare Zahl von Nazi-Größen und Wehrmachtsangehörigen im Stodertal und im Toten Gebirge versteckt hielt. Aufgrund der Aussichtslosigkeit ihrer Lage begingen einige Selbstmord durch Erschießen oder Vergiften. Die örtlichen Pfarrer verweigerten einem auf solche Art zu Tode Gekommenen einen Ruheplatz in der geweihten Friedhofserde. Er wurde außerhalb verscharrt. Ob zur Feststellung der Identität solcher Toten jemals Anstrengungen unternommen wurden, weiß ich nicht.

Bei meinem letzten Besuch zu den Wurzeln meiner Kindheit bemerkte ich über der Stelle der seinerzeitigen Grube eine Betonplatte auf der zwei Abfallcontainer standen.

1 Kommentar:

  1. "Ob es bei diesem Überflug, einem früheren oder späteren geschah, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls versetzte der wahrscheinlich aus technischen Gründen erfolgte Absturz einer feindlichen Maschine den ganzen Ort in helle Aufregung. Als das Interesse der behördlichen Ermittlungen und das der Erwachsenen am Unglück vorbei war, schlug auch für uns Kinder die Stunde und wir krochen in das Wrack hinein. Auch ich rannte mit einem kleinen Beutestück nach Hause und zeigte es voller Stolz der Mutter. Diese hatte allerdings damit keine Freude, im Gegenteil, ich musste den Fund zum Bürgermeister Riedler hinübertragen und dort abgeben."
    Weiß ev jemand wo das war?

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