Herr Konsulent OSR Peter Grassnigg verbrachte seine frühe Kindheit in Vorderstoder, da sein Vater im 2. Weltkrieg dort Oberlehrer war.
Durch den frühen Bergtod seines Vaters, der 1946, 36 jährig in einem Schneesturm am Priel ums Leben kam, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Steyr.
Herr Grassnigg hat seine Erlebnisse und Jugenderinnerungen aus dem Blickwinkel seiner Kinderaugen in Vorderstoder und Steyr aufgeschrieben. Diese Erzählungen lassen uns die damalige entbehrungsreiche und unsichere Zeit sehr eindrucksvoll nachfühlen.
Das Wiedersehen
Nur eine einzige Bergtour, die mein Vater nach seiner Rückkehr aus der englischen Gefangenschaft im Sommer 1946 mit mir unternahm, ist mir bildhaft in Erinnerung geblieben. Sie führte uns von Vorderstoder aus auf die Hutterer Böden, einem Almgebiet, das damals noch frei von jeder touristischen Erschließung, zu Fuß bestiegen werden musste. Der Ausgangspunkt war Hinterstoder.Als wir uns schon auf dem Rückweg befanden, begegnete uns eine Wandergruppe, aus der plötzlich ein schmächtiger Mann hervortrat und rief: „Fritz, bist Du das wirklich!“ Dann lagen sich mein Vater und der zunächst Unbekannte in den Armen. Mehrmals schupfte der Vater das Leichtgewicht in die Höhe und beide waren außer sich vor Freude. Erst viel später, eigentlich nach Jahren, konnte ich dieses Treffen auf der Alm in seiner ganzen Tragweite nachvollziehen – es betraf den Onkel Lois.
Er war der Halbbruder meines Großvaters, jedoch um 18 Jahre jünger als dieser, geboren 1906 und damit nur vier Jahre älter, als mein Vater. Das Verhältnis Onkel zu Neffe spielte sich daher auf einer annähernd gleichen Generationsebene ab.
Alois war 1934 als Februarkämpfer in Steyr auf abenteuerliche Weise unter Mithilfe meines Vaters über Prag nach Moskau emigriert und machte dort wegen seines Fachwissens und seiner Regimetreue Karriere. Sein um zwei Jahre älterer Bruder Karl folgte ihm später freiwillig in die Sowjetunion, weil dort Arbeitskräfte mit Spezialkenntnissen gute Bedingungen vorfanden. Er geriet jedoch aus nie geklärten Gründen in die Fänge des KGB (Geheimdienst) und verschwand auf Nimmerwiedersehen in einem Gulag.
1946 kehrte Alois nach 12 Jahren in der Emigration nach Steyr zurück und betätigte sich politisch bei den Kommunisten als Stadtrat für Wohnungsangelegenheiten.
Zum weiteren Verlauf des Wiedersehens in freier Natur nach langer Trennung fällt mir nichts mehr ein, doch die Bilder, wie mein Vater den Alois in die Höhe schupfte und immer wieder umarmte, werde ich nie vergessen.
Die Lebensgeschichte von Alois ist in dem 1998 erschienenen Buch mit dem Titel „Fluchtspuren“, edition sandkorn, Verlag Franz Steinmaßl, genau beschrieben worden.
Eine Eintragung mit Folgen
Als Ersatz für meinen Vater kam der Volksschullehrer Adolf K. für die Oberstufe (5.- 8. Klasse) an die Schule nach Vorderstoder. Er stammte aus dem Nachbarort Roßleithen, war durch und durch Nationalsozialist, was ihm mangels geeigneter oder williger Personen die Stelle des Ortsgruppenleiters der NSDAP einbrachte. Er gehörte dem Geburtsjahrgang 1909 an, der relativ spät zum Kriegsdienst eingezogen wurde. K. hatte 1939 nichts eiligeres zu tun, als meinen Vater in Abwesenheit als Mitglied des NS-Lehrerbundes eintragen zu lassen. Er füllte die dazugehörige Mitgliedskarte aus und klebte sogar einige Marken hinten darauf. Alles war exakt vorbereitet, nur eines fehlte, die Unterschrift meines Vaters. Natürlich meldete K. seine Werbung an die nächst höhere Stelle weiter, die eine Registrierung vornahm. Genau wie die Nazis einmal waren.
Dieser Umstand wurde meinem Vater beim Wiedereintritt in den Schuldienst im September 1946, der auch mein Schulbeginn war, zum Verhängnis. Plötzlich galt er als Mitglied einer Vorfeldorganisation der NSDAP und damit als belastet. Die Belastung galt zwar wegen seiner Kriegsteilnahme und Unbescholtenheit als gering, bedurfte jedoch einer genaueren Überprüfung durch die Organe der wieder entstandenen Republik im Rahmen der Entnazifizierungs-Gesetzgebung. Das ging damals natürlich nicht von heute auf morgen. Obwohl mein Vater einen Briefverkehr mit der zuständigen Behörde in Linz führte, in dem er seine Mitgliedschaft bei einer NS-Organisation bestritt, war er arbeitslos und durfte, trotzdem er gebraucht worden wäre, nicht unterrichten. Um für den Unterhalt der Familie zu sorgen, arbeitete er bei einem Bauern als Knecht.
Anfang Oktober hatte er die Idee, eine Bergtour ins nahegelegene Tote Gebirge zu machen. Mein letzter bildlicher Eindruck an ihn ist der, wie er auf sein Fahrrad stieg und Richtung Hinterstoder davon fuhr. Eine Wetterwarnung beachtete er nicht. „Es reißt eh auf“, sagte er, womit er ein blaues Loch am verhangenen Himmel meinte. Er kam nie wieder!
Am 6. Oktober gerieten er und seine Begleitung in einen Schneesturm. Beide erfroren. Seine Leiche wurde erst acht Monate später geborgen und im August 1947 am Urnenhain in Steyr beigesetzt.
Weil Vater lange Zeit als vermisst galt und als vom Schuldienst entlassen geführt wurde, erhielt die Mutter keine Bezüge oder Rente. Nicht nur deshalb, auch weil wir in Vorderstoder keine Bleibe mehr hatten, zogen wir nach Steyr und fanden bei der Großmutter mütterlicherseits, deren Mann im August 1946 an Krebs verstorben war, Aufnahme und Unterkunft.
In der Schule
Die ersten drei Wochen meiner Schullaufbahn verbrachte ich noch in der Unterstufe der zweiklassigen Volksschule in Vorderstoder.
Die Menge der vielen im Raum anwesenden Kinder war mir nicht fremd, da ich sozusagen Hausrecht genoss und an Nachmittagen, in denen ich nicht nach außen konnte, noch nicht schulpflichtig, die Klasse als Spielraum benutzen durfte. Durch den Umgang mit den Schülern konnte ich zum Teil schon besser lesen und rechnen als diese.
Als ich im September 1946 in die erste Schulstufe eintrat, saß der Gandiola Hansi neben mir, dessen Sprache ich nur teilweise verstand. Es handelte sich bei ihm um einen Buben aus Südtirol, der mit seiner Familie im Rahmen des Hitler-Mussolini-Paktes die Heimat verließ und in unserer Gebirgsgegend angesiedelt wurde.
Mein erstes Buch, es hieß auch so, hatte schon Vorbesitzer. An den Innenseiten des vorderen und hinteren Deckels prangten in großen Lettern die Buchstaben des Alphabets. Papier zum Schreiben gab es, im Gegensatz zu später in Steyr genug, weil die Krämerin einiges gehortet hatte.
Nach Allerheiligen kam ich an die vierklassige Volksschule für Knaben auf der Promenade in Steyr. Ich musste mich in die letzte Bankreihe setzen, da die vorderen Plätze alle schon besetzt waren. Einige Mitschüler kannte ich schon flüchtig von meinen kurzzeitigen Aufenthalten bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Die erste Klasse unterrichtete der Herr Direktor, ein für mich völlig neuer Titel. Er hieß Karl Wipplinger, war damals 53 Jahre alt, ein Herr mit kurzen weißen Haaren und Brille. Er ist mir als gütig und wohlwollend in Erinnerung geblieben.
Während meiner gesamten Ausbildungszeit stammten meine Mitschüler aus drei unterschiedlichen Geburtsjahrgängen. Es waren 38iger und 39iger dabei, die während des Krieges aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Unterricht besuchen konnten und diesen jetzt verspätet nachholten. Auch Flüchtlingskinder mit eigenartigen Namen waren dabei. Für Buben gilt Alter ist gleich stärker. Das spielte in der Rangreihe eine Rolle. Gegen die Älteren hatten wir, der reguläre 40iger Jahrgang, nichts zu bestellen.
Nach Absolvierung dieser Schulstufe nahmen mich meine Großeltern, die in der Bahnhofstraße wohnten, für zwei Jahre in Pflege, damit daheim ein Esser weniger am Tisch saß.
Steyr, Gemälde von Alois Lebeda |
Waffenfabrik Werndl Gemälde von Alois Lebeda |
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen