Freitag, 7. Juli 2017

Die Moral im Wandel der Zeit

Dreißig Jahre, von 1949 an, war mein Vater Lehrer in der Volksschule Hinterstoder und meine Mutter bewirtschaftete  die Pension "Enzian". In dieser Zeit hatte mein Vater, der die Korrespondenz mit den Gästen erledigte, manchmal besondere Anfragen zu beantworten. Ganz besondere Briefe bewahrte er in seiner Schreibtischschublade auf.    
Eine Zimmeranfrage aus dem Jahr  1954 hat ihn beeindruckt und verwundert. Er verwahrte sie mit anderen "besonderen Briefen" bis zu seinem Tod. Der Brief gibt Einblick in die Moralvorstellungen der damaligen Zeit. Wie sehr sich die Ansichten, seit damals, in rund 60 Jahren verändert haben, kann man daraus deutlich ersehen.

"..........Ich danke für Ihre Antwort und war überrascht über Ihr herrliches Angebot. Am liebsten hätte ich sofort zugesagt. Aber ich bin ja nicht allein. Und nun wappnen Sie sich mit großer Ruhe und Nachsicht und schreiben Sie mir Ihr Urteil.
Ich schrieb Ihnen, was mich in die Berge zieht. Sie können sich denken, wie gerne ich daher die Abgeschiedenheit lieben werde. Ich komme nun mit einer "Bekannten" Das Wort führt irre, es sagt nichts und zuviel. Leider hat aber unsere Sprache kein Wort für einen Menschen, mit dem man noch nicht verlobt oder verheiratet ist. Ich bin also keines von beidem und in dem "gefährlichen" Alter von 24 Jahren.
Was würde nun eintreten, wenn meine "Bekannte" mit mir alleine in einem Haus übernachtete? Was sagen "die Leute"?
Vielleicht haben Sie schon herausgelesen, dass ich verhältnismäßig erregt schreibe. Sie mögen auch wissen warum: mich würde das Geschwätz "der Leute" nicht stören, weil ich meine Grenzen kenne und weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Außerdem ist es meist leicht, die Aufmerksamkeit der vor Moral -äußerlich- berstenden Leute gar nicht erst zu erregen. Ich weiß wie gern Menschen über andere herfallen und Unrat wittern.
Ich war bis vor kurzem Student und habe eine daher zwar freie aber nichts desto weniger absolut reine Einstellung und Anschauung der Dinge. Ich habe in Schihütten übernachtet - die Moralisten wären gestorben vor Aufregung - aber ich wüsste nicht wo es sittenreiner hergegangen wäre.
Ich habe aber die Pflicht, meine Begleiterin zu hören. Sie aber fürchtet den Moralkodex und befürchtet, dass besonders die Tatsache, dass wir Lehrer sind, die Menschen des Dorfes wie die Fremden zu missbilligenden Äußerungen über unseren Stand veranlassen würden.
Das musste aber gesagt werden, damit Sie meine nun folgenden Fragen recht verstehen.
Darf ich Sie bitten mir zu schreiben, ob die Befürchtungen die Sie lasen, zu Recht bestehen?
Sie kennen die Menschen von Hinterstoder, Sie kennen die räumlichen Verhältnisse, Sie wissen um die Fremden. Würde es Entrüstung und moralische Aufruhr geben?
Mag sein, dass Sie das alles schon bedacht hatten, als Sie schrieben, mag sein, dass so etwas nie in Ihren Sinn gekommen wäre zu denken. Es fällt mir schwer, aber ich muss fragen.
Wäre es andernfalls unter Umständen möglich, irgendwo im Ort eine zweite Schlafstelle zu finden, damit die Moral nicht in Scherben geht? Eine Dachkammer, notfalls ein Lager in einer Hütte. Heu wäre mir auch recht.
Und nun etwas von mir: je weiter ich von dem "gefährlichen Ort" entfernt bin, desto lieber wäre es mir. Die Nähe würde mich an den Wahnsinn bringen und das zerstört mir unweigerlich das, was ich in Ihren Alpen suche. Das will ich nicht.
Ich könnte nicht umhin, täglich darüber zu grübeln, wo denn das Moralische liegt, warum "die Leute" nicht zufrieden sind, wenn man zu zweit in demselben Hotel wohnt. Sittlichkeit ist Sache des Willens und des Charakters und nicht der nach Metern zu messenden Entfernung zwischen zwei Menschen.

Sicher haben sie so problematische Anfragen von Sommergästen noch nie bekommen. Es ist auch eine Zumutung, Sie damit zu behelligen. Es wäre mir aber zuwider, wegen einer so blödsinnigen Angelegenheit die Reise zu verderben.


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