Dreißig Jahre, von 1949 an, war mein Vater Lehrer in der Volksschule
Hinterstoder und meine Mutter bewirtschaftete die Pension "Enzian". In
dieser Zeit hatte mein Vater, der die Korrespondenz mit den Gästen erledigte, manchmal
besondere Anfragen zu beantworten. Ganz besondere Briefe bewahrte er in seiner
Schreibtischschublade auf.
Eine Zimmeranfrage aus dem Jahr 1954 hat ihn beeindruckt und verwundert. Er
verwahrte sie mit anderen "besonderen Briefen" bis zu seinem Tod. Der
Brief gibt Einblick in die Moralvorstellungen der damaligen Zeit. Wie sehr
sich die Ansichten, seit damals, in rund 60 Jahren verändert haben, kann man
daraus deutlich ersehen.
"..........Ich danke für Ihre Antwort und war überrascht über Ihr
herrliches Angebot. Am liebsten hätte ich sofort zugesagt. Aber ich bin ja
nicht allein. Und nun wappnen Sie sich mit großer Ruhe und Nachsicht und
schreiben Sie mir Ihr Urteil.
Ich schrieb Ihnen, was mich in die Berge zieht. Sie können
sich denken, wie gerne ich daher die Abgeschiedenheit lieben werde. Ich komme
nun mit einer "Bekannten" Das Wort führt irre, es sagt nichts und
zuviel. Leider hat aber unsere Sprache kein Wort für einen Menschen, mit dem man
noch nicht verlobt oder verheiratet ist. Ich bin also keines von beidem und in
dem "gefährlichen" Alter von 24 Jahren.
Was würde nun eintreten, wenn meine "Bekannte" mit
mir alleine in einem Haus übernachtete? Was sagen "die Leute"?
Vielleicht haben Sie schon herausgelesen, dass ich
verhältnismäßig erregt schreibe. Sie mögen auch wissen warum: mich würde das
Geschwätz "der Leute" nicht stören, weil ich meine Grenzen kenne und
weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Außerdem ist es meist leicht, die Aufmerksamkeit
der vor Moral -äußerlich- berstenden Leute gar nicht erst zu erregen. Ich weiß
wie gern Menschen über andere herfallen und Unrat wittern.
Ich war bis vor kurzem Student und habe eine daher zwar
freie aber nichts desto weniger absolut reine Einstellung und Anschauung der
Dinge. Ich habe in Schihütten übernachtet - die Moralisten wären gestorben vor
Aufregung - aber ich wüsste nicht wo es sittenreiner hergegangen wäre.
Ich habe aber die Pflicht, meine Begleiterin zu hören. Sie
aber fürchtet den Moralkodex und befürchtet, dass besonders die Tatsache, dass
wir Lehrer sind, die Menschen des Dorfes wie die Fremden zu missbilligenden
Äußerungen über unseren Stand veranlassen würden.
Das musste aber gesagt werden, damit Sie meine nun folgenden
Fragen recht verstehen.
Darf ich Sie bitten mir zu schreiben, ob die Befürchtungen
die Sie lasen, zu Recht bestehen?
Sie kennen die Menschen von Hinterstoder, Sie kennen die
räumlichen Verhältnisse, Sie wissen um die Fremden. Würde es Entrüstung und
moralische Aufruhr geben?
Mag sein, dass Sie das alles schon bedacht hatten, als Sie
schrieben, mag sein, dass so etwas nie in Ihren Sinn gekommen wäre zu denken. Es
fällt mir schwer, aber ich muss fragen.
Wäre es andernfalls unter Umständen möglich, irgendwo im Ort
eine zweite Schlafstelle zu finden, damit die Moral nicht in Scherben geht?
Eine Dachkammer, notfalls ein Lager in einer Hütte. Heu wäre mir auch recht.
Und nun etwas von mir: je weiter ich von dem "gefährlichen
Ort" entfernt bin, desto lieber wäre es mir. Die Nähe würde mich an den
Wahnsinn bringen und das zerstört mir unweigerlich das, was ich in Ihren Alpen
suche. Das will ich nicht.
Ich könnte nicht umhin, täglich darüber zu grübeln, wo denn
das Moralische liegt, warum "die Leute" nicht zufrieden sind, wenn man zu zweit in
demselben Hotel wohnt. Sittlichkeit ist Sache des Willens und des Charakters
und nicht der nach Metern zu messenden Entfernung zwischen zwei Menschen.
Sicher haben sie so problematische Anfragen von Sommergästen
noch nie bekommen. Es ist auch eine Zumutung, Sie damit zu behelligen. Es wäre
mir aber zuwider, wegen einer so blödsinnigen Angelegenheit die Reise zu
verderben.
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