Eine ehemalige Volksschülerin aus Hinterstoder erzählt aus
ihrer Erinnerung:
"Unterernährte und arme Kinder wurden verschickt. Ich
war dabei und kam nach Barsinghausen bei Hannover. Ich war 9 Jahre alt und furchtbar
aufgeregt. Jeder Regenwurm hat mehr von der Welt gesehen als ich zur damaligen
Zeit. Schweren Herzens ließ mich Mutter nach Deutschland ziehen.
Meine Zöpfe wurden zu Affenschaukeln geflochten, dazu trug
ich ein rosa Kleid und selbst gestrickte Stutzen mit Zopfmuster. Auf der Brust
hing ein Schild wie eine Hundemarke mit meinem Namen. Mit dem Rucksack auf dem
Rücken machten wir uns auf den Weg zum Autobus, der uns zum Bahnhof brachte.
Ich stand die ganze Zeit im Zug am Fenster und sah mir die vorbeiziehende
Gegend an. Ich konnte mich nicht satt sehen an der fremden Welt. Als ein
glühender Kohlenfunke in mein Auge flog minderte das meine Schaulust. Mein rosa
Kleid war ganz schwarz vom Kohlendreck als wir in Hannover ankamen. Wir kamen
in eine große Halle, die mit Hakenkreuzfahnen geschmückt war. In einer Reihe
aufgestellt wurden wir von den Pflegeeltern ausgesucht. Ich hatte große Angst
als ein dürrer Mann mit abstehenden Ohren auf mich zukam. Er sah aus wie der
Teufel, nur ohne Pferdefuß. Die Familie Horstmann (Name geändert) sprach hochdeutsch und die bei ihnen wohnende Tante plattdeutsch. Wenn die Tante, die
in einem Rollstuhl saß sprach, verstand ich überhaupt nichts. Herr Horstmann
war Geschäftsmann und Handelsvertreter mit einer Import- und Exportfirma. Tief
im Inneren des Landes hatten sie große Felder und Lagerhallen mit
landwirtschaftlichen Produkten. Die Tochter hieß Inge und schlief schon als wir
ankamen. Sie hatte ein eigenes Kinderzimmer. Am nächsten Tag wurde mir alles
gezeigt. Neben Inges Zimmer war mein Schlafzimmer. Das war aber nicht so
komfortabel wie Inges Zimmer. Mir machte das nichts aus, denn Komfort war ich
nicht gewöhnt. An der Wand hing ein Bild mit einem Spruch: "Wer leben will
der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens,
verdient das Leben nicht". Adolf Hitler
Inge hatte viele wunderschöne Puppen in allen Größen.
Natürlich gab es auch viele Puppenkleider und einen Puppenwagen.
Bei Tisch mußte ich in aufrechter Haltung sitzen und die
Portionen mussten aufgegessen werden. Eselwurst kannte ich nicht und mußte mich
übergeben. Ich mochte auch keine eingelegten Heringe und gekochten Schinken.
Wenn keiner zusah ließ ich alles unter dem Teppich verschwinden. Morgens hat
die Putzfrau das Malheur gefunden aber sie hat mich nie verraten. Ich tat ihr
leid weil ich so schwächlich und ängstlich war. Von Herrn Horstmann musste ich
mir sagen lassen, dass es mir an Manieren mangelt, besonders beim Essen. So
fein mit Messer und Gabel zu essen war ich nicht gewöhnt. Auch bei der
Morgentoilette gab es Ärger. Ich wollte mich nicht nackt ausziehen, obwohl es
schön warm war im Bad. Ich schämte mich vor Inge, die mich verspottete. Sie war
eifersüchtig auf mich weil mich die Tante schützte. Inge zwickte mich als ich nackt
dastand in den frisch geimpften Pocken-Oberarm. Es spritzte eine wässerige
Flüssigkeit heraus und ich bekam große Narben die nie mehr weggingen. Das
Heimweh packte mich. Ich weinte und wollte nach Hause. Obwohl es mir an nichts
fehlte vermisste ich mein vertrautes
Heimathaus und meine Lieben zu Hause. Am schlimmsten war die Sehnsucht nach
meiner Mutter mit ihrer gütigen Stimme. Sie hatte nie etwas auszusetzen an mir.
Den ganzen Tag hatte ich nur einen Gedanken, nach Hause. Ich mußte lernen nach
der Schrift zu sprechen, aber ich kam immer wieder in meinen österreichischen
Dialekt hinein.
Ein schöner Tag war wenn ich von zu Hause einen Brief bekam. Vor Aufregung wurde es mir ganz schwarz vor den Augen. Beim Antwortbrief musste ich immer zum Schluss "Heil Hitler" schreiben.
Ein schöner Tag war wenn ich von zu Hause einen Brief bekam. Vor Aufregung wurde es mir ganz schwarz vor den Augen. Beim Antwortbrief musste ich immer zum Schluss "Heil Hitler" schreiben.
Einmal hatten wir Gäste aus Norderney, von dort wo die
Familie in den Ferien Urlaub machte. Auch Toni von der Landverschickung wurde
zu meiner Aufmunterung zum Essen
eingeladen. Er war aus dem Mühlviertel und schlang das Essen voller Gier
hinein. Herr Horstmann sagte : "Man isst nicht wie ein Ferkel!" Toni
schaute ihn erstaunt an. Herr Horstmann fragte: "Weißt Du denn nicht was ein
Ferkel ist?" "Ja", antwortete Toni, "ein Ferkel ist ein Kind vom alten
Schwein".
Langsam gewöhnte ich mich ein und nahm zu. Ich wurde
zusehends dicker und war nun keine "Schmalgeiß" mehr, wie meine
Mutter immer sagte. Oft wurden mir neue Kleider gekauft. Frau Horstmann hatte
ein Textilgeschäft. An ein Kleid kann ich mich besonders gut erinnern. Es war
rot und auf dem Stoff waren kleine Sträußchen mit Enzian und Edelweiß
eingedruckt.
Eines Tages machten wir einen Ausflug nach Hannover in das
Schloß Herrenhausen und in den Zoo. Die Fahrt ging durch das Deistergebirge und
durch einen grünen Buchenwald. Die Ziegen und Steinböcke im Zoo erinnerten mich
an meine Heimat. Ich fing bitterlich zu weinen an. Herr Horstmann kaufte mir ein
Babyflascherl mit Schnuller für die Puppen zu Hause.
Wie ein geölter Blitz schoss ein Ziegenbock auf mich zu und
zog den Schnuller von der Flasche ab. Bei der Fütterung auf dem Geflügelhof sah
ich zum ersten Mal wie ein Pfau ein Rad schlägt. Das hat mich ungemein
fasziniert und brachte mich auf andere Gedanken. Nach 6 Wochen war es so weit
und wir durften wieder nach Hause. Der Rucksack war vollgestopft mit
Geschenken. Auch das Essbesteck bekam ich zum Andenken mit.
Als ich zu Hause ankam, wurde ich angestarrt wie ein Geist,
denn ich habe jetzt nach der Schrift gesprochen. Bei meinen Schulfreunden bin
ich in der Achtung gestiegen und ich mußte immer wieder erzählen wie es mir
gegangen ist. Dass ich soviel Heimweh gehabt habe, das habe ich nicht erzählt".
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