Freitag, 19. Juni 2020

Tiere sehen den Sommergast

Eine Geschichte im "Wiener Magazin" vom Oktober 1933 erzählt humorvoll, wie möglicher Weise die Tiere Sommergäste in ihrer Umgebung sehen und beurteilen. Natürlich kann man darüber nur Vermutungen anstellen. Die Geschichte schrieb Peter Mahr, illustriert hat sie Stefan Wessely. 
Zum besseren Verstehen wurde der Artikel etwas gekürzt und geringfügig der heutigen Schreibweise angeglichen:



Eine dankenswerte Aufgabe wäre es für geschulte Psychologen, einmal die Einstellung der ländlichen Tiere den Sommergästen gegenüber zu erforschen. In folgenden Zeilen können nur einzelne Vermutungen und Kombinationen  aufgestellt werden. Die ländlichen Tiere zerfallen für den Stadtmenschen in drei Gruppen:

a) solche, die ihn stören und die er stört (Hunde, Katzen, Gänse, Enten, Pferde, Schweine, Rinder);
b) Tiere der Wildnis (Ameisen, Mücken, Wespen, Bienen, Rotwild und so);
c) Tiere, die es gar nicht gibt (Gemsen, Edelweiß usw).

Die lodengepanzerten Städter umzingeln tückisch ein Bauerngehöft, nehmen dort Quartier und verfallen automatisch dem Familienanschluß im weitesten Sinne. Schon des Morgens, unter der breitästigen Linde, wird der Sommerfrischler herzlichsten Ovationen teilhaftig.
Jungschweinchen tummeln sich mit Soprangrunzen um die morschen Holzbeine des Frühstückstisches, das Kätzchen, die Nase noch feucht vom Mäuseschmaus, aalt sich heran und stößt die Milchkanne um, der treue Nero (Karo, Sultan,) macht treue Augen und schnappt diesen oder jenen Bissen. Die Insekten und sonstiges Geflügel stürzen sich in den Honigtopf und ertrinken aus Kummer darüber, dass die Menschen sich zu wenig um sie kümmern.
Interessanterweise ändern die meisten Haus- und Hoftiere für die Zeit von Juni bis September ihre Stimmen und passen sie der Sommersaison an. Der wachsame Haushahn erwacht zuerst, fliegt schnell die Morgenzeitung durch und liest die Notizen über die ersten Züge ins blaue Gebirge. Kummervoll fliegt er auf den Zaun und ruft mit nervös zugekniffenen Augen nicht etwa „Kikeriki!“, sondern- „Sie sind schon hie-ie-ie-ier! Siiiie sind schon hiiiier!“ Die Hennen sind als Frauen praktischer. Sie gackern jetzt nicht mehr „Kod-kod- ko-daak“, sondern „Ei-er-preis steigt! Ei-er-preis steeeigt!“ Und so ist es auch.
Der Hund weiß, dass er jetzt wieder von Kindern geritten werden wird und Stöcke aus dem seichten Bach apportieren muss. Er jault und heult: „Beschütz ...schütze Haus und Hof! Haus und Hof! Hau und Hof! Hau hu Hof! Hau hu hoff hoff hoff!“ Nichtsdestoweniger ziehen die Menschen ein und finden es paradiesisch.
„Wie viel Eier legt so eine Henne im Tag?“ Die Bäuerin schmunzelt. Schmunzeln ist eine der wenigen Waffen, die das Landvolk gegen die „Stadtfräcke“ hat. Dass eine Henne keine kernweichen Eier legt, nehmen die Stadtleute wieder mit gutmütigem Schmunzeln hin. … Furchtbar gern möchten die Menschen der Stadt einmal ein Pferd beim Pflügen sehen. Wie ein Pferd den Pflug zieht, natürlich, nicht wie es, ein Liedlein summend, hinterm Pflug hergeht.
Dummerweise aber fällt der Sommer meist in die Zeit der Ernte, die Felder werden hauptsächlich abgemäht und das wackere Rößlein fährt höchstens Jauche, Mist oder Heu. Um dem Gaul dennoch ihre Sympathien zu beweisen, verscheuchen ihm die Städter wenigstens die Bremsen von Maul und Nase. Das Pferd versteht das falsch, macht einen kleinen Seitentritt und der Frischler geht ein paar Tage in Filzschuhen. Er ist beleidigt und das Pferd auch und letzteres wiehert: „Das war noch nie-ie-ie da-ha-ha! Niiie da-a-a!“ Enten und Gänse sind schwer zu unterscheiden. Beide sind weiß und Vögel sind sie auch und nur selten begreift es einer, dass eine Gans soo einen Schnabel hat und eine Ente soo einen. Aber frech sind sie doch und ziehen mit höhnenden Rufen an den Sommerfrischlern vorüber zum Dorfteich. „Pack! Pack! Pack! Pack!“ sagen die Gänse.
Also zieht der Sommermensch motivgierig auf die Weide hinaus, um die Kühe mit den schönen Augen zu photographieren. Die bleiben misstrauisch eine Weile stehen, in ihren schönen Augen ist nichts zu lesen, dann aber weichen sie ganz komisch nach der Seite aus und werden ganz rot, wenn sie das Objektiv auf sich gerichtet fühlen. Ihr Muhen klingt gequält: „Gebt Ruuuh! Ruuuh! Ruuuhü“ Es gibt Kühe mit braunen Flecken, die geben fertige Schokolade. Bei Schweinen bleiben die Menschen mit Überwindung und Interesse stehen und sind originell: „Na, der Geruch hier . . .“ Das Schwein ist anderer Meinung. Es scheuert Rücken und Hinterteil an den krachenden Planken und sagt: „Duft! Duft! Duft!“ Die Bäuerin bringt sein Mittagessen, das Schwein schmatzt und rülpst und verhustet sich und sagt: „Gut! Gut! Gut!“ Wie kann man nur so leben. 

Dann aber ist es Zeit, den Rucksack zu satteln, denn eine Reihe stolzer Berge harrt der Erstbesteigung. Und man hat sein Programm. Die Schafherden auf den Almwiesen lassen die Menschen nachsichtig bergwärts ziehen und sagen höchstens untereinander: „Blööd! ööd! Blööd! Ööd!“ Dann aber werden die Pfade steinig, die Vegetation weicht spärlichen Grashalmen. Ein Geschöpf mit schiefem, aber rosigem Maul und spitzen Hüftknochen zieht diese Grashalme durch das rosige Maul. Es ist fast eine Gemse, aber doch bloß eine Ziege. Die Ziegen tragen der Fremden wegen ein Glöcklein um den Hals. Die Menschen trauen sich nicht recht, die Ziege nach der Ernte zu fragen, was sie sonst bei all den Ländlern tun. Auch hat die Ziege so boshafte, grüne dreieckige Augen. Die Menschen bleiben schwitzend stehen und fragen sich: „Wie heißt der Gipfel dort?“ Oder: „Wie weit ist noch bis zum Priel Schutzhaus?“ Da mischt sich die Ziege ungebeten ins Gespräch und sagt: „Steht im Bä-ä-ädeker, Bä-ä-ä-ä- deker!“ (Reiseführer) Die Gemse aber zeigt sich nicht. Kühne Jäger sollen sie auf unzugänglichen Felsgraten gesichtet haben, wo sie die Schutthalden der Moränen abweiden und die gesunde Gletschermilch trinken. Die Gemsen sind bloß huschende dunkle Punkte im Fernrohr. Sie schämen sich, denn man hat ihnen die Gemsbärte als Hutschmuck abrasiert und so wollen sie nicht unter Menschen gehen. Ähnlich ist es auch mit dem Edelweiß, das die feschen Bauernburschen neben den Gemsbart stecken. Das Edelweiß soll eigentlich eine Blume sein, aus weißem Filz. Für den Stadtfrack empfiehlt es sich, das Edelweiß fertig gepflückt in Büscheln zu kaufen, denn beim Selbst -„brocken“ hat sich schon mancher „sakrisch“ weh getan ...

Die Behaglichen gehen um das Dorfkirchlein herum, den Waldrand entlang und in diesen hinein. Hier lebt der stolze Hirsch mit seiner Frau, der Hirschkuh. Der Förster sagt, sie essen nicht, sondern sie äsen, sie gehen nicht, sondern sie wechseln. Schon der Wechsel halber, die sie täglich einlösen, möchte der Städter die Hirschleute gern zu Gesicht bekommen. Aber Rehe und Hirsche bleiben im Walde und nähren sich redlich. Aus diesem Umstand schon sieht man ihre Verwandtschaft mit der Gemse. Der Förster erzählt, der Hirsch könne mit seinem Geweih „woltern“ stoßen! Vorhin ist uns der Hirsch nachgelaufen und wollte stoßen. Gebrüllt hat er auch. Es war aber bloß der Gemeindestier, ein Neurastheniker (Nervenschwäche), der ein scharfes Auge für Moden hat. Er kann es nicht ausstehen, dass die Damen krachrote Dirndlröcke zum schwarzen Samtmieder tragen. Die Ameise aber ist friedlich. Sie lebt in prächtigen Palästen aus Tannennadeln. Sinnend bleibt der Mensch stehen und sagt: „Wie fleißig die Tierchen doch sind, da könnte unsereiner was lernen ...“ Und er lernt und bohrt den schweren Bergstock in den Ameisenbau. Die Ameisen, die ansonsten den Menschen nicht anfallen, schütteln rachedürstig die Fäuste und kriechen dem Menschen in die Kleider.
Weil wir gerade beim Beißen sind, ein Kreuzotterlein kommt auch des Weges. Das Kreuzotterlein hat mit dem Ringelnatterlein ein Abkommen geschlossen. Das eine darf sich immer als das andere verkleiden. Unterscheiden kann mans vorher schwer, an ihren Bissen sollt ihr sie erkennen. Es empfiehlt sich, der Kreuzotter beizeiten eins mit dem Ameisenstock zu versetzen, da läßt sie ihren Schwanz liegen, eilt fluchend ins Gebüsch und ruft von dort: „Ätsch, ätsch, ich bin ja die Eidechse!“ In manchen Gebirgsgegenden ist das Murmeltier, auch „Maukai“ genannt, sehr beliebt. Es schaut aus wie ein sympathischer Hamster und hat eine sehr schlechte Figur. So breit und flach, aber der Pelz ist ganz hübsch und das Fleisch soll gut sein. Früher einmal sollen Savoyardenknaben mit dressierten Murmeltieren herumgezogen sein, die wunderbare Kunststücke konnten. Die Murmeltiere, die sehr bildungsfeindlich sind, leiden heute noch an der Zwangsvorstellung, alle Sommergäste seien Savoyardenknaben und kämen, um sie einzufangen. Sie sitzen vor ihren Löchern auf den Geröllhalden der österreichischen und bayerischen Berge, schwenken die Backentaschen und „mürmeln“, zeigen die langen Nagetierschneidezähne und sehen aus wie eine Werbeannonce für eine Zahnpasta. Taucht ein Mensch auf, so pfeifen sie schrill auf zwei Fingern, das bedeutet: „Savoyarde ahoi!“ Und mit noch schrilleren Pfiffen, die diesmal „Pfui Mensch!“ bedeuten, tauchen sie in ihre Höhlen.
Ein geschmeidiges, haariges Geschöpf gleitet einen Baumstamm hinauf. Es hat keinen buschigen roten Schweif, ist also kein Fuchs. Das Eichhörnchen ist es auch nicht, denn es lässt sich nicht mit einer unreifen Haselnuss locken. Um Gottes willen, eine Wildkatze! Nein, es ist bloß eine zahme Katze vom Bauern. Sie ist ein wenig in den Wald gepilgert, sich ein trillerndes Meislein zum Mittagbrot zu haschen. Wir nähern uns also wieder bewohnten Gegenden. Bloß Hühner gibt es zu Mittag nicht mehr, der Marder ist dagewesen und hat den zwei schönsten Leghennen die Hälschen durchgebissen … Am Waldrand ruht ein kleines, dürres Geschöpf mit tückisch funkelnden Äuglein ... Der? Marder? Nein! Es ist nur der Sommerreporter Peter Mahr.









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